Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher.

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Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi.

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Der Eröffnungsfilm, so viel steht schon einmal fest, ist perfekt gewählt. Alice Rohrwachers Lazzaro felice war dieses Jahr in Cannes für nicht wenige Kritiker der Favorit des Herzens. Mit einer magischen Geste lässt die italienische Filmemacherin zwei Welten kollidieren. Der erste Teil des Films spielt auf einer Tabakplantage in den 1990er-Jahren, in denen die Arbeiter in Halbpacht wie Leibeigene gehalten werden. Als die Ungerechtigkeit auffliegt, ist der Held des Films, Lazzaro (Adriano Tardiolo), schon verschollen. Jahre später taucht er wie der namensstiftende Heilige in der Gegenwart wieder auf, und sein unschuldig-naiver Blick auf die prekären Lebensumstände seiner einstigen Gefährten lässt die uns allen vertraute Gegenwart in anderem Licht erscheinen.

Eröffnungsfilm der diesjährigen Viennale: "Lazzaro felice".
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Lazzaro felice passt mit seiner märchenhaften Übersteigerung eines sozialrealistischen Kinos gut zu einem Festival, das traditionell einem avancierten Autorenkino verpflichtet ist. Nicht nur in dieser Hinsicht hält die neue Direktorin Eva Sangiorgi den Geist der Viennale hoch – die programmatische Ausrichtung unterscheidet sich nur wenig vom Vorgänger Hans Hurch. Ein Grund dafür ist, dass der Italienerin für ihre erste Ausgabe wenig Zeit für die Vorbereitung blieb – da ist noch mehr zu erwarten. In den inhaltlichen Setzungen, etwa der Hervorhebung von Filmemachern wie Roberto Minervini, Jorge Acha und Gürcan Keltek, beweist sie bereits Eigensinn und bevorzugt in Österreich wenig etablierte künstlerische Positionen gegenüber populistischen Zugeständnissen.

Trailer zu "Lazzaro felice".
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Den Kern der Viennale bildet das Hauptprogramm – hier nur die Festivalhighlights des laufenden Jahres aufzufädeln wäre zu einfach. Es gilt, die Vielseitigkeit des Gegenwartskinos auch über die Ränder abzubilden. In einer auf Spektakel schielenden Kulturlandschaft diese Ausrichtung zu bewahren ist bereits ein couragierter Schritt. Im Programm suchen muss man die herausfordernden Filme nicht lange – Juliana Mannas Essayfilm über globale Ökologie, Wild Relatives, steht neben dem rauschhaften 3D-Traum in Long Day's Journey Into Night des Chinesen Bi Gan; Carlos Reygadas' epische Innenschau eines Paares, Nuestro Tiempo, neben Daniel Zimmermanns Wahrnehmungsstudie Walden. Oder die beiden elektrisierenden Popstar-Amokläufe Vox Lux (Regie: Brady Corbet) und Her Smell (Alex Ross Perry). Alles Filme, die bisher keinen Verleih haben – und in einer besseren Welt einen hätten.

Leitlinien und Empfehlungen

Sangiorgis Entscheidung, Dokumentar- und Spielfilme angesichts der wachsenden Unschärfe der Gattungen in einer Rubrik zu vereinen, ist zwar theoretisch richtig, könnte sich aber praktisch als Bumerang erweisen. Denn ein Festival muss dem Publikum auch Leitlinien bieten, an denen es sich orientieren kann. Da sind weniger kuratorische Zusammenführungen gefragt als Einstiegshilfen, um ein Programm von 130 Filmen besser bewältigen zu können. Die neue Idee, auch aktuelle Arbeiten mit Affinität zum Filmmuseum ebendort zu präsentieren, ist ein solcher Wegweiser und obendrein eine schlüssige Form der Einbeziehung dieser Institution.

Wie Sangiorgis Rede zur Eröffnung ausfallen wird – Hurch hat dieses Ritual mit sophistischer Eloquenz betrieben -, ist noch ungewiss. Mit Bestimmtheit lässt sich dafür sagen, dass die Viennale auch eine Aufwertung der Gesprächsangebote, des Austauschs mit den Filmschaffenden vertragen kann. Sangiorgi hat in Mexiko mit Ficunam ein Festival geleitet, das in dieser Hinsicht stark aufgestellt war – es gab sogar ein "Forum der permanenten Kritik". Mit der "Aperitivo"-Reihe im Festivalzentrum in der Kunsthalle Wien ist dahingehend ein Anfang gemacht. (Dominik Kamalzadeh, 25.10.2018)