Mehr als fünf Monate nach der Parlamentswahl hat der Irak einen neuen Regierungschef. Das Abgeordnetenhaus in Bagdad stimmte am frühen Donnerstagmorgen (Ortszeit) für den schiitischen Politiker Adil Abdel Mahdi.

Danach legten er und 14 Minister ihren Amtseid ab. Wichtige Schlüsselposten im Kabinett bleiben aber unbesetzt. Dazu gehören die Führung des Innenministeriums sowie die Ressorts Verteidigung und Justiz.

Tiefgreifende Probleme

Damit ist der Irak nach langer Zeit wieder mit positiven Nachrichten in den internationalen Medien vertreten. Die großen, strukturellen Probleme des Landes sind damit allerdings nicht gelöst. Dennoch sei das Land heute in einer wesentlich besseren Position als 2014, meint Nussaibah Younis. Die Nahost-Expertin vom Londoner Chatham House war am Mittwoch – kurz nach ihrer Rückkehr von einer Irak-Reise – Gast bei STANDARD-Redakteurin Gudrun Harrer im Kreisky-Forum.

Viel sei im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS), der vor wenigen Jahren noch ein Drittel des Landes besetzt hielt, erreicht worden. 2014, als der IS die nordirakische Metropole Mossul eroberte, sei die Ausgangslage sehr viel schlechter gewesen, versuchte Younis zunächst einen positiven Ausblick. Der Optimismus sollte nicht lange anhalten. Denn in allen drei Regionen des Irak – dem kurdischen Norden, dem sunnitischen Zentrum und dem schiitischen Süden – gebe es tiefgreifende Probleme:

  • Sunniten: In den sunnitischen Gebieten, in denen der IS seinen Aufstieg begann und auch Rückhalt genoss, werde auf die grundlegenden Missstände und Kränkungen, die den Aufstieg der Extremisten überhaupt ermöglichten, überhaupt nicht eingegangen.
    "Wenn ich Sunniten im Irak frage, was ist heute anders als vor dem Aufstieg des IS, ist die Antwort, dass man die Lektion gelernt habe, weil man gesehen habe, wie furchtbar der IS sei", sagt Younis. Das sei aber nur ein schwacher Trost, denn die Mehrheit der Iraker ist unter 30. Die Gefahr, dass diese Lektion sehr schnell vergessen werde, sei ziemlich groß. Die Situation für die Sunniten sei heute noch dazu wesentlich prekärer als 2013. Weite Gebiete seien zerstört und ohne wirkliche Aussicht auf Wiederaufbau.
    Darüber hinaus fehle es an korrekten rechtsstaatlichen Prozessen. Jede Einheit hatte während der Eroberung eine unterschiedliche Politik, wer wegen Terrorverdachts festgenommen werde und wer nicht. Es reiche eine einfach Denunzierung, und man lande im Gefängnis, viele Verurteilungen würden auf durch Folter erzwungenen Geständnissen basieren, manche Gerichtsprozesse würden nicht länger als zwei Minuten dauern. Damit aber werde der Nährboden für neuerliche Radikalisierung geschaffen.
    Politiker in Bagdad würden sich für diese Missstände nicht interessieren oder aber solche empört zurückweisen. Die Misere von 2013 hätte in den sunnitischen Gebieten inzwischen Metastasen gebildet. Hinzu kommt, dass Schiiten das politische Leben in sunnitischen Gebieten kontrollieren würden. Eigentlich wäre es dann aber die Rolle der sunnitischen Politiker, darauf einzugehen, aber die Sunniten seien eben eine Minderheit im Parlament, und um eine Mehrheit zu bekommen, müssten sie Allianzen bilden. Aber wer rechtsstaatliche Verfahren für IS-Verdächtige fordere, werde in Bagdad schnell beschuldigt, selbst Terrorist zu sein, so Younis.

  • Kurden: In den kurdischen Gebieten sei die Situation nicht unbedingt besser: Mit dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum sei für die kurdische Region im Irak ein "Jahr aus der Hölle" gewesen. Viele – vor allem junge – Einwohner hätten den Eindruck, Politik werde primär für Vetternwirtschaft benutzt. Der kollabierende Ölpreis und Sparpakete haben zu Wut, Streiks und Protesten geführt. Fälschungsvorwürfe bei den Wahlen im Mai hätten das Übrige getan, so Younis: Viele Junge hätten das Vertrauen in den demokratischen Prozess komplett verloren.

  • Schiiten: Im ölreichen Süden ist die Lage nicht besser – im Gegenteil. Die Region um Basra ist zwar die Grundlage für einen Großteil des Einnahmen des Irak, doch die Lebensbedingungen vor Ort sind dennoch katastrophal. Zigtausende Menschen sind erst unlängst wegen verschmutzten Wassers erkrankt, in regelmäßigen Abständen kommt es zu "Elektrizität-Randalen", weil die Energieversorgung nicht sichergestellt ist. Die Region hat – trotz Ölreichtums – eine der höchsten Arbeitslosenraten des Landes. Den Grund für diese Misere macht Younis auch in Korruption und Freunderlwirtschaft und inkompetenter Regierungsarbeit der lokalen Politiker fest. So würden nicht die richtigen Leute an den Universitäten für die Ölindustrie ausgebildet, die lokalen Stämme fordern, dass ihre Mitglieder Jobs bei den Ölmultis bekommen. "Also stellen die Ölfirmen einige Leute aus den lokalen Stämmen an und bringen dann Philippiner ins Land, die die eigentliche Arbeit machen", sagt Younis. Falls die Ölfirmen nicht so vorgehen, würden die Stämme damit drohen, wichtige Pipelines anzugreifen.


Viele dieser Probleme seien hausgemacht und eine Frage der Regierungskompetenz, aber die Menschen vor Ort sehen sie durch die Linse der eigenen Viktimisierung. Das verbinde auch alle drei Regionen miteinander: "Jeder fühlt sich als Opfer, weil jede Gruppe im Irak einmal viktimisiert wurde. Also wird jedes Problem durch diese Linse betrachtet."

Verbesserung der Governance

Der westliche Ansatz, den sie von fast allen Botschaftern und Diplomaten vor Ort höre, die Probleme vor allem mit einer Verbesserung der Governance zu lösen, sei der falsche, sagt Younis. "Die Probleme werden durch ein Prisma des eigenen Opferstatus gesehen, daher müssen die Probleme auch unter diesen Voraussetzungen angegangen werden." (red, 25.10.2018)