Angst ist überlebenswichtig und hat viele Auslöser. Wächst sie unverhältnismäßig stark an, ist sie zu häufig und dauert zu lange an, kann es sich um eine Angststörung handeln.

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Alle Wirbeltiere verspüren Angst. Mäuse fürchten sich vor Katzen, Antilopen vor Löwen und Menschen vor kleinen und großen Tieren, Dunkelheit, Höhe, Aufzügen, Schmerzen und noch vielem mehr. Die Empfindung ist nicht umsonst so universell und umfassend: Denn wer sich fürchtet, lebt länger. Angst schärft die Sinne, fungiert als Warnfunktion und ermöglicht, dass der Körper schneller reagiert", schreibt Psychiater Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien im Vorwort des eben erschienen Buchs "Angst".

"Angst hilft uns, Gefahren aus dem Weg zu gehen", ergänzt Michael Rufer, Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Autor des Ratgeberbuchs "Stärker als Angst". Bei manchen Menschen gerät dieser natürliche Lebensschutzmechanismus allerdings außer Kontrolle. Wer beim Anblick einer Spinne erstarrt, Herzrasen bekommt und nach Luft schnappt, reagiert mit extremer Angst. Die allerdings in keinem Verhältnis zur realen Situation steht. Viele Spinnenphobiker wissen, dass ihre Angst unbegründet ist, sie können die Angst dennoch nicht abstellen, meiden Keller und Wiesen und gehen nicht zelten.

Ärzte sprechen in solchen Fällen von einer Angststörung. Die Angst ist unverhältnismäßig stark, zu häufig und dauert zu lange an. Angststörungen sind die häufigste psychische Erkrankung: 14 Prozent der europäischen Bevölkerung, also mehr als 61 Millionen Europäer, erkranken daran. Unterschieden wird zwischen Phobien, die objekt- oder situationsbezogen sind, also etwa Platzangst oder die Angst vor Spinnen, und ungerichteten Angststörungen wie Panikattacken oder der generalisierten Angststörung, bei der man sich pausenlos sorgt.

Bereits Baby haben Angst vor Spinnen

"Oft vermeiden Betroffene die angstauslösende Situation, was das Berufs- und Privatleben sehr einschränken kann", erklärt Rufer. "Bei manchen Patienten beherrscht die Angst den Alltag. Der Leidensdruck ist dann sehr hoch", sagt Katharina Domschke, Leiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Die körperlichen Symptome, die mit starker Angst einhergehen, helfen uns beim Überleben: Hält uns jemand ein Messer an die Kehle oder begegnen wir einem zähnefletschenden Raubtier, versetzt das unseren Körper schlagartig in höchste Alarmbereitschaft. Das Stresshormon Adrenalin flutet den Körper, die Blutgefäße verengen sich, das Herz pumpt schneller, die Muskeln spannen sich an.

Passiert das allerdings im Aufzug, in der Warteschlange oder sogar aus dem Nichts, ist das anstrengend. Warum verselbstständigt sich die Angst überhaupt? "Es sind immer mehrere Faktoren beteiligt", sagt Domschke. Die Ursachen für die Entstehung einer Angststörung lassen sich dabei in drei Gruppen einteilen. So spielen biologische Faktoren eine Rolle.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig zeigten 2017, dass die Angst vor Spinnen und Schlangen in uns angelegt sein könnte: Schon sechs Monate alte Babys reagierten auf Bilder dieser Tiere mit Stress, auf Bilder von Blumen und Fischen hingegen nicht. Forscher interpretieren das als evolutionäres Erbe: Da die Angst vor Schlangen in unserer Stammesgeschichte einen Überlebensvorteil bot, reagieren heute viele empfindlich auf die Tiere. Experten sprechen auch von der "biologischen Bereitschaft", eine bestimmte Angst zu entwickeln.

Von Eltern gelernt

Auch Affen zeigen die Bereitschaft: Rhesusaffen, die in Gefangenschaft großgezogen werden, haben keine Angst vor Schlangen. Beobachten sie aber Artgenossen, die sich vor Schlangen fürchten, übernehmen sie die Angst sehr schnell. Sie lernen hingegen nicht, sich vor Blumen oder Kaninchen zu fürchten.

Auch beim Menschen hat das Lernen einen erheblichen Einfluss: Beobachtet ein Kind die ängstliche Reaktion der Mutter auf einen Hund, übernimmt es diese womöglich. "Es ist ein Unterschied, ob ein Kind lernt, dass es immer vorsichtig sein soll, weil an jeder Ecke Gefahr lauert, oder ob es lernt, dass es sich meistens sicher fühlen und Ängste überwinden kann", sagt Rufer.

Zum anderen spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle: die Scheidung der Eltern, Missbrauch, aber auch persönliche Erfahrungen. Wurde man als Kind von einem Hund gebissen, kann das eine Angststörung auslösen. Die Kopplung an bestimmte Lebensereignisse ist gerade für Panikstörungen typisch: finanzielle Probleme, Arbeitsplatzverlust, Tod der Eltern. "Aber auch die Geburt eines Kindes oder eine Beförderung können Auslöser sein. Denn damit steigt die Verantwortung", erklärt Domschke.

Angst wird nicht gelöscht

Erfreulicherweise lassen sich Angststörungen gut behandeln: "Für spezifische Phobien liegt die Erfolgsquote bei bis zu 90 Prozent. Selbst bei der generalisierten Angststörung, die am schwierigsten zu behandeln ist, liegt die Erfolgsquote bei 60 bis 70 Prozent", sagt Rufer.

Als Goldstandard gilt die kognitive Verhaltenstherapie. Betroffene lernen, wie Ängste entstehen und aufrechterhalten werden, und müssen daraufhin ihren eigenen Alltag analysieren und die angstauslösenden Situationen identifizieren. Herzstück der Therapie sind die sogenannten Konfrontationsübungen: Betroffene begeben sich wiederholt in die Angstsituation, etwa in einen Aufzug. Sie lernen dabei, dass sie die Situation durchstehen und die Ängste regulieren können.

"Die Angst wird nicht gelöscht", sagt Rufer, "aber man lernt einen neuen Umgang, was sie dann reduziert." Ist die Angststörung ausgeprägt und kommen noch andere Probleme wie Depressionen hinzu, werden auch Medikamente eingesetzt. Viele Patienten kommen erst nach Jahren. Oft haben sie versucht, ihre Angst mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln zu bekämpfen, wissen Psychiater wie Rufer und Psota. Das mache die Behandlung komplizierter, doch auch sie haben gute Chancen, von der Therapie zu profitieren. (Juliette Irmer, 31.10.2018)