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Xi Jinpings Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Foto: REUTERS/Fred Dufour

Chinas Führung wollte wissen, welche Bücher die Bevölkerung als die wichtigsten der vergangenen Jahrzehnte betrachtet. Das Ergebnis erzürnte sie – denn die Liste las sich wie ein subtiler kulturpolitischer Protest gegen die ideologische Gleichschaltung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping.

Auf Platz eins kam der dystopische Roman "1984" von George Orwell, mit Platz zwei wurde der sozialkritische Roman "Goldene Zeiten" von Wang Xiaobo ausgezeichnet. Weit vorne, auf Rang vier, landete auch Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft".

Die Affinität zu all diesen Werken spiegelt die Hoffnungen der ersten Reformgeneration nach dem Ende der Kulturrevolution wider. Ihre erneute Lektüre erscheint vielen Lesern nun wichtiger denn je, denn Peking läutet ein neues Zeitalter ein – zur digitalen Überwachung und normierten Anpassung seiner 1,4 Milliarden Menschen zählenden Bevölkerung mithilfe eines sozialen Kreditpunktesystems. "Chinas Herrscher zementieren in neuartiger Weise ihr Regime. Das muss für alle ein Weckruf sein", schreibt der langjährige Pekinger Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung", Kai Strittmatter, in seinem Buch "Die Neuerfindung der Diktatur" (Piper).

Künstliche Intelligenz

Zahlreiche Neuerscheinungen befassen sich mit Chinas Digitalisierung, der rasanten Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) und mit den erst seit fünf Jahren bekannten Experimenten für ein neues soziales Management der Gesellschaft. Strittmatter hat als Erster die Anfänge nachrecherchiert, mit Vordenkern in Peking und Schanghai gesprochen, besuchte das Experimentierfeld der Kreisstadt Rongcheng, wo die Behörden jeden Bürger nach einem "sozialen Bonitätssystem" bewerten, ob er vertrauenswürdig ist.

Strittmatter zum STANDARD: "In China entsteht, was wir noch nie gesehen haben." Geschickt habe sich die Kommunistische Partei die Zukunfts- und Informationstechnologien angeeignet und nehme neuerdings immer mehr globalen Einfluss: "Die größte Herausforderung für die Demokratien des Westens in den kommenden Jahrzehnten wird nicht Russland, es wird China sein."

Illusionslos nennt Strittmatter Chinas starken Führer Xi einen "Kontroll- und Stabilitätsfetischisten", der die Grätsche schaffe, mit einem Bein bei Lenin und mit dem anderen in der digitalen Zukunft zu stehen.

Bürger im Plus-Minus-System

2014 startete Pekings Staatsrat vier Dutzend Pilotprojekte, bei denen alle Daten der Bürger erfasst und deren Verhalten benotet wird. Pluspunkte entscheiden etwa über Bankkredite, Minuspunkte sollen in Zukunft böse Folgen bei der Arbeitsplatzsuche bis hin zur Verweigerung einer Auslandsreise haben. Strittmatter nennt den "neuen vertrauenswürdigen Menschen" als Ziel: "Algorithmen schaffen den ökonomisch produktiven, sozial harmonischen und politisch gefügigen Untertanen, der sich am Ende selbst vorbeugend zensiert."

Immer ausgefeiltere KI-Anwendungen helfen bei der Überwachung. Jüngst brüstete sich Miao Wei, Amtschef des Ministeriums für Industrie- und Informationstechnologie (MIIT): "Rein technisch gesehen liegen wir bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz noch hinter Industrieländern wie den USA zurück. Doch in Bereichen wie Spracherkennung, Haltungs- und Gesichtserkennung stehen wir schon an vorderster Front der Welt."

Ab 2020 will der Staatsrat die Erfahrungen der Pilotprojekte vereinheitlichen und in ganz China einführen. "Wenn das erfolgreich ist, wäre es die Rückkehr des Totalitarismus im digitalen Gewand", warnt Strittmatter. Das Rezept lasse sich auch an andere Autokraten in der Welt verkaufen. Es sei wie ein "neues Betriebssystem, das sie in China ordern können, sogar mit Wartungsvertrag."

Die Werte des Westen

Die liberalen Freiheitswerte des Westens, für deren Verteidigung immer weniger streiten wollen, sieht er inzwischen doppelt bedrängt; von US-Präsident Donald Trump, der sie mit Vorwürfen wie "Fake-News" und "alternative Fakten" diskreditiert, und durch Xi, der sich als Champion der Globalisierung und des Freihandels feiern lässt. "Im Moment sieht es eher so aus, als unterwandere China den Kapitalismus und das Internet gleich mit."

Der britische Ökonom und China-Experte George Magnus unterschreibt viele der düsteren Szenarien Strittmatters, glaubt aber, dass sich Peking selbst zu viele Beine stelle. China schlage "Wellen, wie wir sie uns nicht vorstellen können und worauf wir nicht entsprechend vorbereitet sind", schreibt er in seinem Buch "Red Flags" (Yale University Press). Er meint mit dem Titel keine Welteroberungsfahnen, sondern an Peking gerichtete Warnflaggen.

Das Land treibe es mit seiner außenpolitischen Expansion zu weit, stehe international im Gegenwind und erleide ein globales "Vertrauensdefizit". China stecke in einer Schuldenfalle und könne die Internationalisierung seiner Währung nicht verkraften, die sogenannte Renminbi-Falle. Peking gerate mit seiner überalterten Bevölkerung in die Demoskopie- und Stagnationsfalle. Keines der Probleme sei neu, doch erstmals wirkten sie alle zusammen, während Wachstum und Produktivität fallen. Der Regierung fehle es an neuen Optionen, wie es sie einst mit ihrem Eintritt in die Welthandelsorganisation (WTO) gab. Hinter Offensiven wie der "Neuen Seidenstraße" stecke weniger wirtschaftliches als vielmehr politisches Kalkül.

Kampf China gegen USA

Der einstige Google-Chef in China, Lee Kai-fu, glaubt, so schreibt er in "AI Superpowers: China, Silicon Valley, and the New World Order" (Houghton Mifflin Harcourt), dass China innerhalb einer Dekade die USA übertreffen könnte. Chinas Internet-Ökosystem und das von Silicon Valley hätten sich zu zwei "parallelen Universen" entwickelt. Sie seien nicht kompatibel, rivalisierten aber um den Einfluss auf Dritt- und Schwellenländer. Peking habe die Nase vorn.

Alle drei Autoren nennen ihre Bücher "Weckrufe". Lee warnt vor einer "joblosen Zukunft" durch KI und IT-Automatisierung, aber auch vor dem Trugschluss, dass Chinas große IT-Player nicht innovativ seien. Zwar hätten sie anfangs ihre westlichen Vorbilder hemmungslos kopiert. Doch aus ihren Anwendungen und Umsetzungen entstanden später genuin neue Produkte. Lees Buch ist dort am stärksten, wo er als Insider die unbarmherzigen Schlachten chinesischer IT-Gesellschaften beschreibt, um an die Spitze zu kommen. Dabei hätten sie alle einen Vorteil: Ohne Datenschutz und gesellschaftliche Debatten sprudeln für sie die Daten im Überfluss.

Denkwürdiges Go-Brettspiel

Und alle drei Bücher nennen als Ausgangspunkt für Pekings forcierte digitale Revolution ein denkwürdiges Go-Brettspiel-Match im Mai 2017: Chinas Weltmeister Ke Jie wurde darin vom Roboter Alpha Go besiegt. Das sei "Chinas Sputnik-Moment" geworden.

Zwei Monate später ordnete Xi den "großen Sprung in die künstliche Intelligenz" an. Bis 2030 müsse das Land darin Weltspitze und KI-Führungsmacht werden. Im April 2018 sagte er auch, warum: China habe einst die Industrielle Revolution verpasst – diesen Fehler dürfe sich das Land nicht wieder leisten. Es geht demnach nicht nur um den Orwell'schen Staat, es geht auch um den Wunsch nach Weltherrschaft. (Johnny Erling aus Peking, 31.10.2018)