Statt "Easy", "Normal" und "Hard" könnten Entwickler es mal mit "Short", "Normal" und "Long" probieren. Was meinen Sie?

Foto: Rockstar Games

Montagabend, 22:00 Uhr. Das Kind schläft wieder. Jetzt aber wirklich. Ich lade meine Revolver nach, steige aufs Pferd und reite mit maschineller Zielsicherheit durch die Prärie, um endlich Rache an den O'Driscolls zu nehmen. Tief versunken in dem Westernhöllenritt Red Dead Redemption 2 fühlt sich das Leben als Outlaw immer weniger nach virtuellem Tourismus und immer mehr nach Konditionstraining an. Nicht, weil die Aufgaben gar so monoton sind und Rockstars jüngster Blockbuster die gleichen Irrtümer begeht, wie viele andere Genrevertreter. Nein, schlicht und ergreifend deshalb, weil die Entwickler sich entschieden haben, die Entfaltung und Conclusio dieses Westernepos' auf gut 60 Stunden auszudehnen. Wer das Ende erleben möchte, sollte besser keine sozialen, familiären und beruflichen Verpflichtungen haben, sondern sich extra Urlaub nehmen oder auf Schlaf verzichten.

Video: Unser Test zu Red Dead Redemption 2.
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Die Hürde, ein Spiel überhaupt anzufangen

Das klingt jetzt nach einer Beschwerde, obwohl der großzügige Umfang eigentlich für das Produkt spricht. Und das tut er auch gewiss. Zumindest für eine bestimmte Zielgruppe, die noch die Zeit hat, sich auf Spielemarathons einzulassen. Oder eine Zielgruppe, die es nicht stört, eine Geschichte über Wochen oder gar Monate auszukosten und dabei den roten Faden nicht verliert oder sowieso ignoriert. Doch für viele Videospielfans, die mit ihrem Lieblingsmedium mitgealtert sind und nun als Erwachsene voll im Leben stehen, ist der zeitliche Anspruch speziell moderner Open-World-Games und Rollenspiele mittlerweile eine beachtliche Hürde, überhaupt noch ein Spiel anzufangen. Bereits 2014 verrieten Entwickler von Microsoft und Riot in einem Vortrag auf der Branchenmesse GDC, dass tatsächlich weniger als die Hälfte aller Kunden Spiele zu Ende bringen. Der "Pile of Shame", also der Turm der Schande, der sich stapelnden, ungeöffneten Games, ist längst ein Grundpfeiler unserer unterhaltungsübersättigten Gesellschaft.

Verdauliche Portionen bitte

Das ist aus zweierlei Hinsicht bedauerlich: Interessierte Spieler schaffen keinen erfolgreichen Abschluss mehr und werden es sich beim nächsten Mal vielleicht zweimal überlegen, ob sie überhaupt ein weiteres Assassin's Creed, The Witcher, Dragon Age oder GTA erwerben sollen, wenn sie wohl sowieso wieder die Pointe verpassen werden. Und Hersteller produzieren massenhaft Inhalte für ein Publikum, das diese Inhalte zu großen Teilen nie zu Gesicht bekommt.

Probleme, die Entwickler mit unterschiedlichen Ansätzen in den Griff zu bekommen versuchen – von generell stark verkürzten und oft halbherzigen Mini-Kampagnen bis hin zur Zerstückellung in Episoden, wie man es von TV-Serien kennt. Und dies mit gutem Grund: Aus dem Streaming-Bereich weiß man mittlerweile, dass Konsumenten sehrwohl an ausführlichen Geschichten interessiert sind, diese jedoch in verdaulichen Portionen genießen wollen.

Es braucht Cliffhanger

Letzteres ist freilich leichter gesagt als getan, wie man an dem clever und aufwendig produzierten, jedoch dann spielerisch weniger mitreißenden Quantum Break sehen konnte. Spielern wurde hier bei jedem neuen Spieleinstieg eine kurze Zusammenfassung des bisher Geschehenen geboten. Ein starker Service, der allerdings ein weiteres Merkmal von erfolgreichen TV-Serien damals nicht berücksichtigte: Seher wissen bei jeder bevorstehenden Episode, wie lange sie dauern wird und können ihren Feierabend danach auslegen. Und bei Fortsetzungsdramen regen Cliffhanger dazu an, weiterzuschauen. Spieler ballern, springen und rasen hingegen meist ins Blaue hinein.

Gerade diese Art der Segmentierung wäre eine Chance für Spielhersteller, ihre Games für jedermann genießbarer zu machen. Moderne Open-World-Spiele sind sowieso bereits in dutzende Missionen unterteilt und diese wiederum in optionale Abenteuer und solche, die die Geschichte vorantreiben. Doch Letztere umfassen bei Red Dead Redemption 2 allein mehr als 60 Stunden. In vielen anderen Genrevertretern wird zumindest die 30-Stunden-Marke gerne übertroffen. Für Spieler mit geringerem Zeitbudget bieten manche Werke nun die Möglichkeit, den Schwierigkeitsgrad herunterzuschrauben, um praktisch unbesiegbar durch Sequenzen zu fliegen. Mit Einschränkungen auf den Spielspaß.

Video: Die wichtigsten Infos zu Red Dead Redemption 2 in aller Kürze.
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"Short" "Normal" und "Long"

Was fehlt, ist die Option, eine gestraffte Fassung der Story erleben zu können. So gut auch die tausenden Seiten des Red Dead Redemption 2- oder The Witcher 3-Skripts geschrieben sind, man könnte hunderte Seiten auslassen und würde dennoch einen befriedigenden Höhepunkt erleben. Damit bekäme man zwar nicht jedes einzelne Detail mit und würde nicht jeden einzelnen Charakter kennenlernen, doch dafür einen vermutlich viel wesentlicheren Gesamteindruck erhalten, um bereit für die Fortsetzung zu sein. Statt "Easy", "Normal" und "Hard" könnten Entwickler es mal mit "Short", "Normal" und "Long" probieren. Oder Spiele gleich so gestalten, dass die einzelnen Segmente besser für sich allein stehen, zeitlich absehbarer sind, zum Weitermachen anregen und den Wiedereinstieg leichter machen. Bis dahin heißt es: Weiter durchbeißen oder Revolver gleich im Halfter stecken lassen. (Zsolt Wilhelm, 7.11.2018)