"Commander of the Empire" Hilary Mantel, Autorin von "Jeder Tag ist Muttertag", weiß über alle Facetten der Prosakunst Bescheid.

Foto: Grant/APA

Auf den ersten, unbedarften Blick strotzt ein Roman wie Jeder Tag ist Muttertag vor britischem Understatement. Die Einfamilienhäuser kleben lieblos aneinander in den Vorortsiedlungen. In den Wohnschachteln hausen Witwen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Die immer schrulliger werden, Vertreter des Sozialamts höflich von der Schwelle weisen und ihre Zeit und Behausung lieber mit den Seelen ermordeter Kinder teilen.

Das Gespensterthema stellt den Romanerstling (1985) der britischen Autorin Hilary Mantel in die Traditionslinie der Gothic Novel. Doch alles passiert mit schwindelerregender Leichtigkeit im Erzählwerk Mantels, die sich als mehrfache Booker-Preisträgerin seit einiger Zeit auch "Commander of the British Empire" nennen darf.

Knochentrockener Humor

Auch ihre Autobiografie Von Geist und Geistern strotzt nur so vor Übersinnlichkeit. Knochentrocken ist allein Mantels Humor. Ihre Familie ist irischstämmig. Hillary wächst katholisch auf und bemerkt eine sittenstrenge Umwelt, in der Großmutter und Großtante auf hohen, harten Stühlen hocken, ehe sie, als von Entbehrung gezeichnete Frauen, stumm auf das Linoleum rutschen.

Mantel beschreibt sich selbst als Geisterseherin. Sie "sieht" Dinge. Aus der Enge ihrer Jugend in Derbyshire träumt sie sich mit unverschämter Sicherheit hinaus, etwa in die Welt von Tudor-England. Der überaus modern anmutenden Wiege des heutigen England gedachte sie in einer erfolgreichen Romantrilogie. Mantel schwätzt nicht, auch nicht in ihrer historischen Prosa. Sie okkupiert das Bewusstsein einer Figur wie Thomas Cromwell, und sie zieht den Leser mit Haut und Haaren tief hinab ins 15. Jahrhundert.

Oder aber ins Umland von Manchester, in die grauen 1970er-Jahren, wie in Jeder Tag ist Muttertag. Man meint, die Musik der New-Wave-Tragöden Joy Division zu hören, und zugleich das Wispern umtriebiger Toter. Der famose Roman wird als Wiener Gratisbuch 2018 ab Mittwoch in der Bundeshauptstadt verteilt. So wird man billig Geisterseher. (Ronald Pohl, 6.11.2018)