1918 ist mit dem Ende des Ersten Weltkrieges auch das Ende der drei großen europäischen Dynastien der Romanows, der Hohenzollern und der Habsburger gekommen.

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Felix Grütsch: https://derstandard.at/Gruetsch

Illustration: Felix Grütsch

Die erste österreichische Republik ist aus einer politischen und militärischen Katastrophe unvergleichbaren Ausmaßes hervorgegangen, aus dem Zusammenbruch der alten, übernationalen habsburgischen Reichsidee. 1918 ist mit dem Ende des Ersten Weltkrieges auch das Ende der drei großen europäischen Dynastien der Romanows, der Hohenzollern und der Habsburger gekommen. Die im Stahlgewitter des ersten modernen, industrialisierten, globalen Maschinenkriegs erschütterten und traumatisierten Massen gingen daran, althergebrachte Welt- und Gottesordnungen zu stürzen, Jahrhunderte währende soziale Hierarchien und Autoritäten abzuschaffen und Neues an ihre Stelle zu setzen. Die militärische Demobilisierung sollte sich als ein zentrales Moment der politischen Revolution erweisen, und in den vier Tagen vom 28. bis 31. Oktober 1918 vollzog sich dann, mit dem Zusammenbruch der Armee, die Auflösung der Monarchie. Es waren nationale und demokratische Revolutionen, die die Nachfolgestaaten etablierten und zugleich die Massen der Arbeiterschaft und der zurückkehrenden Frontsoldaten mobilisierten.

Am 11. November 1918 stimmt dann der letzte Habsburger der Veröffentlichung einer in ihren zentralen Passagen von dem Sozialdemokraten Renner und dem Christlichsozialen Ignaz Seipel verfassten Verzichtserklärung zu. Zugleich beschließt der seit Ende Oktober unter dem Vorsitz des späteren Wiener Bürgermeisters Karl Seitz amtierende Staatsrat, tags darauf die Provisorische Nationalversammlung zu ihrer insgesamt dritten Sitzung einzuberufen. Der einem Entwurf Renners folgende Gesetzesbeschluss des 12. November erklärt Deutschösterreich zur demokratischen Republik – auf den Tag genau 70 Jahre nachdem die Truppen des Windisch-Graetz das revolutionäre Wien des Jahres 1848 niedergeworfen hatten. Schließlich bestimmte, im Sinne eines von den Sozialdemokraten im Staatsrat eingebrachten und mit überwältigender Stimmenmehrheit angenommenen Antrags, der Artikel 2 des Grundgesetzes: "Deutschösterreich ist Bestandteil der Deutschen Republik."

Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die österreichische Revolution als eine vornehmlich politische, als ein Prozess der Defeudalisierung, dem Momente des sozialen Umsturzes und des spektakulären Eintritts der Massen in die Geschichte unterlegt sind – und der eben daraus seine weitere Dynamik gewinnt.

Nicht von der Straße

Gleichwohl wurde die Republik nicht von "der Straße" proklamiert. Die soziale Unruhe, die Erregung, die elementare Bewegung, die die Massen ergriffen hatte, fand vielmehr in einer gewaltigen Demonstration ihren signifikanten Ausdruck. Während am 12. November die Provisorische Nationalversammlung im Saal des Herrenhauses tagte und über Anordnung des Staatsrates zum ersten Mal die rot-weiß-rote Fahne der Republik gehisst wurde, rissen Kundgebungsteilnehmer das Weiße aus dem Fahnentuch. Kurz darauf stürzten kommunistische Soldaten in Richtung Parlamentstor und begannen mit einer ziellosen Schießerei, die zwei Menschen das Leben kostete, sonst aber folgenlos blieb.

Die instinktive, elementare, archaische Bewegung, die sich ausgehend von den Kundgebungen der unmittelbaren Umsturzzeit entwickelte, sollte bis in den Sommer 1919 hineinwirken. Zugleich war das soziale Elend allumfassend geworden und hatte im Verband mit den traumatischen Erfahrungen aus dem industrialisierten Massenkrieg begonnen, zivilisatorische Hemmungen und gesellschaftliche Tabus einbrechen zu lassen. Die drückende Not, die Verzweiflung der Menschen wurde anlässlich des sogenannten Gründonnerstag-Putsches der Kommunisten am 18. April 1919 in ebenso deutlicher wie erschreckender Weise manifest: Die Demonstranten hatten sich auf die gefallenen Pferde der Sicherheitswache gestürzt und aus den noch warmen Körpern der toten Tiere Fleischstücke als willkommene Beute herausgerissen. Es begab sich dies zur gleichen Zeit, da sich der Bürgermeister von Albern an die Niederösterreichische Landesregierung wandte, um mitzuteilen, dass in Hinkunft keine im Gemeindegebiet angeschwemmten Leichen mehr auf dem Friedhof der Namenlosen beerdigt würden. Der Friedhof sei von Holzdieben gänzlich verwüstet, seiner hölzernen Umzäunung und der Grabkreuze beraubt worden. Aus der Grabkammer waren die hölzernen Särge und diverse Werkzeuge verschwunden.

Sozialreformen

In dieser mehr als dramatischen Situation versuchte die sozialdemokratische Arbeiterpartei, die aus dem Zusammenbruch aller Werte, Normen und Autoritäten als einzige Kraft gestärkt hervorgegangen war, revolutionäre Energien in eine Strategie der Durchsetzung umfassender Sozialreformen und der Wiederherstellung der Produktion zu transformieren. Es war der durchaus beachtenswerte Versuch der Etablierung einer dem Vorbild des jakobinisch-republikanischen Staates der Französischen Revolution entsprechenden und den Bedingungen moderner Industriegesellschaften angepassten sozialen Republik. Das korrespondierende Wirtschaftsmodell sah weitgehende Sozialisierungsmaßnahmen im Sinne genossenschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln vor.

Die Bestimmungen des Friedensvertrags von Saint-Germain haben derlei Konzepte allerdings schlicht obsolet werden lassen. Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und insbesondere die auferlegten wirtschaftlichen Sanktionen zeitigten fatale Konsequenzen und haben die objektiven Rahmenbedingungen innenpolitischen Handelns dramatisch verändert. Am 17. Oktober 1919 ratifizierte die Konstituierende Nationalversammlung den Friedensvertrag. Es ist dies nicht nur der Tag des Rücktritts der ersten Koalitionsregierung; es bezeichnet dieser Tag zugleich das Ende der österreichischen Revolution. (Wolfgang Maderthaner, 9.11.2018)