Wie künstliche Intelligenz in der Betreuung von Patienten Anwendung finden könnte, wird in einem Projekt des Schweizer Telemedizinanbieters Medgate demonstriert.

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Medgate-Geschäftsführer Andy Fischer hält das Gesundheitswesen nicht für zukunftsfit. Er will eine digitale Transformation der Patientenbetreuung einleiten.

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Rüschlikon – Die Widrigkeiten, denen ein Arzt auf dem Weg zu seinem Patienten begegnet, stehen am Beginn von Franz Kafkas Erzählung "Ein Landarzt": Ein Schwerkranker wartet in einem zehn Meilen entfernten Dorf, es herrscht dichtes Schneegestöber, und das Pferd des Arztes ist just in der Nacht zuvor gestorben. Die Anstrengungen, die der Arzt auf dem Weg zu seinem Patienten in Kauf nehmen muss, mögen überzeichnet sein. Doch 1917, als Kafka die Erzählung schrieb, war es nicht weiter ungewöhnlich, dass ein Arzt seine Patienten zu Hause aufsuchte.

Mit der modernen Medizin hat sich das freilich geändert. Allein die technischen Geräte, die bei einem Arztbesuch zum Einsatz kommen, sind nicht so ohne Weiteres transportabel. Von überbordenden Kosten für das Gesundheitssystem, die durch Hausbesuche entstünden, ganz zu schweigen. So liegt es in der heutigen Zeit an den Kranken, mitunter kafkaeske Wege auf sich zu nehmen, um den Ursachen ihres Leids auf die Spur zu kommen und eine entsprechende Behandlung zu erhalten. Die Wartezeiten, während derer man mit vielen weiteren Kranken auf engem Raum auf das Arztgespräch wartet, übertreffen dabei zumeist jene Zeit, die man den Arzt dann tatsächlich zu Gesicht bekommt.

5.000 Patienten pro Tag

Der Schweizer Telemedizinanbieter Medgate schlägt einen Ausweg aus diesem Szenario vor: Patienten sollen zu Hause behandelt werden, und das bei geringeren Kosten und mit mehr Effizienz. Schon bisher erteilt Medgate rund 5.000 Patienten pro Tag telefonisch medizinische Auskünfte. Im kommenden Jahr soll zudem ein Produkt auf den Markt kommen, bei dem künstliche Intelligenz bei der Telekonsultation eingesetzt wird. Der Prototyp ist vergangene Woche erstmals vor Journalisten in Rüschlikon bei Zürich vorgestellt worden, am europäischen Forschungssitz des IT-Unternehmens IBM, mit dem Medgate das Projekt entwickelt hat. Das Produkt lässt erahnen, in welcher Weise künstliche Intelligenz das Gesundheitssystem revolutionieren könnte.

Per Smartphone-App können Patienten ihre Beschwerden mitteilen, ein Chatbot übernimmt die medizinische Befragung. Im Fall von Kopfschmerzen fragt der Bot: "Fühlen Sie sich fiebrig?", "Sind Sie verkühlt?" und Ähnliches. Bei Kniebeschwerden will der intelligente Chatbot hingegen wissen, ob man sich verletzt hat oder eine Knie-OP hatte. Künstliche Intelligenz findet dabei in der medizinischen Entscheidungsfindung ihre Anwendung. In akuten Fällen empfiehlt das System, ins nächste Krankenhaus zu fahren. Gewöhnlich ermöglicht das System es am Ende der Befragung, ein Telefon- oder Videogespräch mit einem Arzt zu führen.

Virtuelle Visite

Der Arzt sucht somit den Patienten zu Hause auf – allerdings nicht physisch, sondern virtuell. Nach dem Gespräch werden dem Patienten die ärztlichen Empfehlungen noch schriftlich übermittelt. "Das ist wichtig, da wir wissen, dass viele Patienten vergessen, was ihnen der Arzt gesagt hat, sobald sie die Arztpraxis verlassen haben", sagt Medgate-Geschäftsführer Andy Fischer.

Fischer hat das Unternehmen 1999 gegründet und agiert als einer der Pioniere in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Mit 300 Angestellten in der Schweiz, die Mehrheit Ärzte, sowie 20 Softwareingenieuren ist Medgate einer der größten Anbieter von Telekonsultationen. Neben der Schweiz hat das Unternehmen Niederlassungen in Abu Dhabi, Australien, Indien, auf den Philippinen und in der Slowakei. Die Expansion nach Deutschland ist geplant, scheitert aber momentan noch an den Auflagen. In einigen Ländern, wie auch der Schweiz, besteht die Möglichkeit, dass Kosten für Telekonsultationen von der Krankenkasse übernommen werden.

Vier Säulen der Konsultation

Das Medgate-System basiert auf vier Säulen: Die App dient der Organisation der Behandlungen. Technisch handelt es sich dabei um ein Online-Buchungssystem, mit dem beispielsweise Video-Arzt-Konsultationen gebucht werden können. Künftig soll die App um den Chatbot erweitert werden, um das System noch effizienter zu machen.

Die zweite Säule sind die sogenannten Telekliniken. Es handelt sich dabei um medizinische Servicezentren, die rund um die Uhr erreichbar sind und die der Patient telefonisch oder per Videochat zwecks Konsultation kontaktieren kann. Mit 5.000 Patienten pro Tag ist Medgate das größte Telekonsultationszentrum in Europa.

Breites Spektrum der Diagnostik

Drittens bieten Minikliniken eine physische Erweiterung der Telekonsultation: In einem Raum, der wie eine kleine Arztpraxis aussieht und mit einer Vielzahl diagnostischer Geräte ausgestattet ist, kann medizinisches Hilfspersonal verschiedenste Tests durchführen. Ein Allgemeinmediziner oder Facharzt ist virtuell zugeschaltet. Beispielsweise werden die Bilder einer Ohrenuntersuchung, die ein Assistent durchführt, direkt an einen Arzt übermittelt, der gar nicht physisch anwesend ist und per Video seine Empfehlungen an den Patienten erteilt.

Die vierte Säule ist das Partnernetzwerk aus niedergelassenen Ärzten und Spitälern. All jene Patienten, die nicht mittels Telekonsultation und in den Minikliniken behandelt werden können, überweist Medgate an lokale Ärzte und Krankenhäuser. Momentan sind das 50 Prozent der Patienten, langfristig soll der Anteil auf zehn Prozent reduziert werden.

Herausforderungen der digitalen Wende

Natürlich bringt der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin auch Herausforderungen mit sich. Da es sich um äußerst sensible Daten handelt, bei denen durch eine App die vollständige Krankengeschichte eines Menschen administriert wird, muss Datensicherheit gewährleistet werden.

Zudem kann die digitale Transformation der Gesundheitsversorgung nur dann gelingen, wenn sowohl die Patienten als auch die Ärzte die Technologie akzeptieren und damit ihren Umgang finden. "Traditionell war die Gesundheitsversorgung immer etwas sehr Persönliches", sagt Fischer. Die Herausforderung liege darin, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, um eine datenorientierte Abwicklung zu ermöglichen.

Antwort auf Ärztemangel

Laut Fischer ist das derzeitige Gesundheitswesen zu kostenintensiv und ineffizient. "Dafür wird in der Zukunft niemand mehr zahlen." Das Credo von Medgate laute: "Wir verwenden moderne Kommunikationstechnologien, um genau das zu tun, was Ärzte laufend tun, nur viel effizienter." Indem der Arzt nicht mehr vor Ort sein muss, sondern im Bedarfsfall virtuell zugeschaltet wird, können laut Fischer 40 Prozent der Kosten eingespart werden.

Außerdem biete das System eine elegante Möglichkeit, dem Mangel an Ärzten in ländlichen Gebieten zu begegnen. Nicht zuletzt ist die virtuelle Visite laut Fischer eine Rückkehr in die "gute alte Zeit", als die Kranken noch vom Arzt zu Hause aufgesucht wurden – wenn auch nicht mehr per Pferd und durch den Schneesturm. (Tanja Traxler, 13.11.2018)