Seit unsere Vorfahren vor 700.000 Jahren gelernt haben, Feuer zu nutzen, hat sich ein kompliziertes Verhältnis zwischen Technik und Mensch entsponnen: Einerseits ermöglichen Technologien enorme Verbesserungen für das Leben der Menschen, andererseits sind sie schuld an Leid und Todesfällen. Das gilt für das Feuer ebenso wie für moderne Technologien wie Autos oder Computer. Bloße Ablehnung neuer Errungenschaften sei zwecklos, sagt der israelisch-amerikanische Informatiker Moshe Vardi: "Wir müssen einen Umgang mit Technologie finden."

Moshe Vardi ist Informatiker an der Rice-Universität in Houston.
Foto: Corn

Im Sommer hat Vardi einen Aufsatz veröffentlicht, der international in Fachkreisen für großes Aufsehen sorgte: "How the Hippies destroyed the Internet" betitelte er seine Analyse zum Zustand des Internets. Bei seinem Aufenthalt in Wien vergangene Woche anlässlich des Treffens des International Advisory Board der Fakultät für Informatik der Technischen Universität Wien wurde das Thema erneut diskutiert. "Es herrscht breiter Konsens darüber, dass mit dem Internet etwas schiefgelaufen ist", sagt der Informatiker von der Rice Universität in Houston. Symptomatisch stehe dafür etwa der Einfluss von Russland auf den US-Wahlkampf 2016 durch Online-Aktivitäten.

Worst-case Cyberattacken

"Wenn man darüber nachdenkt, was die furchtbarsten Formen von Cyberattacken wären, zählt ein Stromausfall zur schlimmsten Kategorie", sagt Vardi. Würde das Stromnetz der Vereinigten Staaten auch nur für einen Tag lahmgelegt werden, würden viele Menschen ihr Leben verlieren. Ein ähnlich dramatisches Szenario sei es, wenn ein Staat den Wahlprozess eines anderen beeinflusst. Vardi: "Auf einer Skala von eins bis zehn ist das für mich eine Katastrophe vom Ausmaß zehn." Doch genau das ist durch das Internet und Online-Plattformen wie Facebook und Google möglich. "Die Utopie des Internets hat sich zur Dystopie verkehrt."

Selbst Tim Berners-Lee, der Erfinder des WWW, hat sich ob der offenkundigen Missstände dafür ausgesprochen, das Internet neu aufzusetzen. Doch so groß die Einigkeit ist, dass sich das Netz teils in eine problematische Richtung entwickelt hat, so unterschiedlich sieht die Analyse aus, wie es dazu gekommen ist – und was dagegen unternommen werden kann. Laut Vardi liegt das am Businessmodell der Online-Riesen und dem seit der Geburtsstunde des Internets geltenden Mantra "information should be free". In der englischen Sprache paart sich hier der Ruf nach Freiheit mit jenem nach Gratisinhalten.

Moshe Vardi interessiert sich dafür, wie sich Technologie auf die Gesellschaft auswirkt.
Rice University

Werbung und Überwachung

Die Forderung nach frei zugänglichen Inhalten sei ein Erbe der rebellischen Generation der 1960er- und 1970er-Jahre, die Vardi kurzum als Hippies subsumiert und die das Internet auf den Weg gebracht haben. Doch so sympathisch die Forderung nach freien Inhalten sei – in der Rückschau sehe man nun, dass sie den Markt für Daten im Internet zerstört habe. Im Businessmodell, das sich in dieser Situation durchgesetzt hat, werden persönliche Daten von Internetnutzern gehandelt, um dadurch Werbeeinnahmen zu erzielen.

Gleichzeitig ist die Diskussion darüber verschleiert worden, wer die Kosten tatsächlich trägt. "Die Menschen glauben, dass sie viele Dienste von Google gratis erhalten, aber das ist eine Illusion", sagt Vardi. Letztlich würden die User selbst die Kosten tragen – allerdings nicht mit direkten Zahlungen an die Online-Dienste, sondern über den Umweg des Kaufs von Produkten von Konzernen, die wiederum Online-Werbungen platzieren. Die unerwünschte Nebenwirkung: vollständige Überwachung durch Online-Dienste, um personalisierte Daten für Werbezwecke bestmöglich nutzbar zu machen.

Die Automatisierung von Entscheidungsprozessen betrifft von der industriellen Produktion bis hin zur Strafverfolgung viele Bereiche der Gesellschaft. Klare Regeln gibt es kaum.
Foto: Getty Images/iStockphoto/Magdevski

Fünf Dollar pro Monat für Google

Doch was wäre ein möglicher Ausweg? Vardi schlägt vor, dass jeder User beispielsweise für Google fünf US-Dollar pro Monat zahlt – dafür wären Google-Services werbefrei, und es gäbe keine Überwachung mehr. "Ich würde das sofort zahlen!", sagt Vardi.

Generell erkennt der Informatiker ein Manko an Regulierungen für Technologiekonzerne. Besonders drastisch sei das im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI). Sie findet mittlerweile in breiten Anwendungsfeldern Einsatz:_angefangen bei industriellen Fer tigungsprozessen und medizinischer Diagnostik über Personalentscheidungen bis hin zu Sicherheitssystemen, teilweise auch in der Strafverfolgung. An durchgängigen Bewertungsstandards fehlt es allerdings. "Für mich ist das ein Skandal, denn KI ist völlig unterreguliert. Niemand weiß, wie effektiv die KI-Systeme im Justiz bereich sind, welche Daten dort Eingang finden und wie sie ihre Entscheidungen treffen."

Bild nicht mehr verfügbar.

Bei der Security China 2018 Ausstellung in Peking im Oktober wurde eine Demonstration einer KI-basierten Gesichtserkennungssoftware gezeigt.
Foto: REUTERS/Thomas Peter

Gesetzliches Vakuum

Unter dem Vorwand, dass Regulierungen die Innovation hemmen könnten, sind Technologiekonzerne bislang weitestgehend von der Gesetzgebung ausgeklammert worden. Doch hat sich bereits bei den Autokonzernen gezeigt, dass diese gegen Gesetze zur Erhöhung der Verkehrssicherheit waren. Von Alkoholverboten bis zum Sicherheitsgurtgebot gibt es ein ganzes Potpourri an Gesetzen, um unseren Umgang mit Autos zu regeln. Die Autoindustrie ist aufgrund dessen nicht zum Erliegen gekommen.

Wenn es einen Unfall aufgrund mechanischer Mängel gibt, ist der Autohersteller verantwortlich. Wenn man eine Software kauft, gibt es allerdings keine klare Verantwortlichkeit. "Die Technologie ist hier unterreguliert."

Warnhinweise für Smartphones?

Um den dringlichen Handlungsbedarf bei der Regulierung von künstlicher Intelligenz zu verdeutlichen, empfiehlt Vardi, sich einen Moment lang eine Welt ohne Gesetze für Medikamente oder den Verkehr vorzustellen. "Wenn es so weit kommt, dass KI lebensbestimmende Entscheidungen trifft – und an diesem Punkt stehen wir bereits –, braucht es eine klare Gesetzgebung."

Laut Vardi brauche es eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie Technologien kontrolliert und reglementiert werden sollen, welche Inhalte im Netz gratis sein sollten und welche nicht. "Jedes Zigarettenpackerl hat einen Warnhinweis. Vielleicht sollte es bei Smartphones genauso sein." (Tanja Traxler, 16.11.2018)