Prothesen, Implantate, Herzschrittmacher: Insgesamt gibt es 500.000 Medizinprodukte im Handel.

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  • Der Stein des Anstoßes

Ein Mandarinennetz in der Vagina? Dieses Experiment war Anlass für die sogenannten Implant Files – eine weltweite Recherche des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten (ICIJ) zur Entwicklung, Prüfung und Anwendung von Medizinprodukten und Implantaten im menschlichen Körper.

Die niederländische Journalistin Jet Schouten machte den Test: Sie gab ein einfaches Mandarinennetz aus dem Supermarkt als Vaginalnetz aus. Dabei handelt es sich um ein Medizinprodukt, das Frauen mit Beckenbodenbeschwerden implantiert wird. Von gleich drei zuständigen Stellen wurde ihr die Zulassung in Aussicht gestellt. Ähnliche Erfahrungen haben Journalisten vom "British Medical Journal" gemacht. Sie wollten eine erfundene Hüftprothese auf den Markt bringen – das Zertifikat wäre erteilt worden.

Nun wurden die Ergebnisse der fast zweijährigen Recherche in sämtlichen Medien veröffentlicht. Sie zeigen: Ärzte setzen Patienten schlecht getestete Produkte ein. Die Prüfstellen sind private, auf Profit ausgerichtete Unternehmen, die von den Medizinprodukteherstellern bezahlt werden. Komplikationen und Probleme mit den Produkten werden immer wieder vertuscht, Patienten oft schlecht informiert.

  • Wie die Prüfung abläuft

Bevor ein Medikament die Zulassung erhält, werden in randomisierten kontrollierten Studien Nutzen und Nebenwirkungen erforscht. Für Medizinprodukte gelten weniger strenge Kriterien. Hier muss nicht die Wirksamkeit zur Behebung des Symptoms oder der Erkrankung nachgewiesen werden, sondern die Leistungsfähigkeit. Ein Beispiel: Zur Therapie von Herzrhythmusstörungen kommt die Katheterablation zum Einsatz. Der Hersteller muss zwar nachweisen, dass der Katheter Herzgewebe veröden kann – ob dadurch Herzrhythmusstörungen erfolgreich behandelt werden, ist nicht Teil der Prüfung.

Der Nachweis der Wirksamkeit von Implantaten ist häufig deutlich schwieriger als bei Medikamenten. Für viele Implantate und Prothesen entfallen solche Studien aber ohnehin. Möglich ist das durch das sogenannte Äquivalenzprinzip. Es gilt dann, wenn bereits ein ähnliches medizinisches Produkt verkauft wird, das in einer klinischen Studie getestet wurde. Oft zeigen sich Risiken von Implantaten erst nach Jahren. Um auf solche Langzeiteffekte reagieren zu können, wäre ein verpflichtendes zentrales Melderegister nötig. Im Gegensatz zu den USA gibt es in Europa aber keine Meldepflicht von Komplikationen.

  • Zertifizierung in privaten Händen

In Europa entscheiden meist privatwirtschaftliche Prüfunternehmen, ob Medizinprodukte wie Hüftprothesen, Herzschrittmacher oder Stents in der EU verkauft werden dürfen – eine Zertifizierung durch staatliche Behörden ist nicht vorgesehen. Alle Hochrisikoprodukte benötigen eine CE-Kennzeichnung, die von sogenannten "benannten Stellen" vergeben wird. In Deutschland ist das etwa der TÜV, in Österreich waren das die Europaprüfstelle für Medizinprodukte (PMG) der Technischen Universität Graz und TÜV Austria; die beiden Prüfstellen führen jedoch keine CE-Zertifizierungen mehr durch.

Die Hersteller von Medizinprodukten können frei entscheiden, von welcher Stelle sie sich prüfen lassen, und zahlen dafür. Interessenkonflikte können dadurch nicht ausgeschlossen werden. So wurden in Deutschland seit 2010 rund 10.000 Medizinprodukte neu zertifiziert, nur 80 abgelehnt.

Eine Untersuchung im "British Medical Journal" aus dem Jahr 2012 zeigte, dass Prüfstellen in der Slowakei sehr schnell eine Zertifizierung vergeben – der TÜV Deutschland benötigt hingegen für die CE-Kennzeichnung einer Endoprothese mehrere Monate und verlangt für die Rezertifizierung aussagekräftige klinische Daten.

  • USA setzen auf staatliche Behörde

In den USA ist die Zulassung von Medizinprodukten durch die staatliche Arzneimittelbehörde FDA geregelt. Experten betonen, dass die Zulassung dadurch strenger ist als in Europa. So müssen etwa Brustimplantate aus Silikon in den USA deutlich höhere Anforderung erfüllen.

Die FDA veröffentlichte im Jahr 2012 eine Liste mit Hochrisiko-Medizinprodukten, deren Zulassung die Behörde abgelehnt hatte, die aber in Europa auf den Markt kamen. So wurden etwa Stents unterschiedlicher Hersteller in der EU nach begrenzter Testung zugelassen. Die FDA fand hingegen heraus, dass viele der Produkte nicht wirksam waren oder sogar zu Blutgerinnseln führten.

In der EU ist weiterhin keine zentrale Zulassungbehörde geplant. Stattdessen wurden 2017 in einer neuen Medizinprodukte-Richtlinie die Regeln für die CE-Kennzeichnung verschärft, die ab 2020 gelten sollen. Die wichtigsten Änderungen: Das Äquivalenzprinzip wird strenger, die Produzenten können sich nur noch auf eigene, bereits einmal getestete Produkte beziehen. Es sollen mehr klinische Studien notwendig sein und Angaben zu den Produkten in der europaweiten Datenbank Eudamed erfasst werden. Die Prüfstellen müssen unangemeldet kontrollieren.

  • Die Situation in Österreich

Laut seiner Erfahrung, so Raphael Scheuer, orthopädischer Chirurg in Wien, haben die Komplikationen mit Implantaten in Österreich zuletzt nicht zugenommen: "Wir benutzen im Routinebetrieb Produkte, die schon tausendfach eingesetzt wurden und sich bewährt haben."

Dennoch gibt es Kritik: In Europa gebe es keine einheitlichen Prothesenregister, in denen Komplikationen zu Produkten festgehalten werden, sagt Orthopäde Alexander Zembsch vom Gelenkzentrum Hietzing. Register gebe es zwar, diese seien aber nicht verpflichtend, wie die ICIJ-Recherche ergeben hat. Und doch gibt Scheuer Entwarnung für Patienten: "Ich hätte null Bedenken, mir in Österreich ein orthopädisches Implantat einsetzen zu lassen."

Das gilt jedenfalls nicht für alle Medizinprodukte, wie der Fall der französischen Firma Poly Implant Prothèse (PIP) zeigt, deren reißanfällige Brustimplantate weltweit 300.000 Frauen eingesetzt wurden, auch in Österreich. Der VKI vertritt hierzulande 70 Frauen, weitere Geschädigte können sich aktuell einer Sammelklage anschließen. Zertifiziert wurden die Implantate vom TÜV Rheinland, obwohl billiges Industriesilikon verwendet wurde, das medizinisch nicht zugelassen war. (Günther Brandstetter, Bernadette Redl, 26.11.2018)