David Lama, ganz oben.

Foto: Red Bull Content Pool
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David Lama geht langsam. So langsam, wie man 6.903 Meter über dem Meeresspiegel eben geht. Schritt für Schritt, vier Höhenmeter hat er noch vor sich. Es sind die letzten Meter eines Weges, den er seit vielen Jahren geht. Hinaus auf den Gipfelsporn des Lunag Ri, auf diese Felsklippe, die so eindrucksvoll hervorragt, als könnte sie jeden Moment vornüberkippen.

Erstbesteigung. Dieses Wort ist selten geworden. Gewiss gibt es noch hunderte Berge und abertausende Routen, die noch nicht einmal wissen, dass sie auf ihre Erstbesteigung warten – für den Fortschritt des Bergsteigens sind aber die wenigsten relevant. Der Lunag Ri war es. Er war eine Herausforderung, selbst für den Tiroler Lama, der im Alpinismus wie in der Kletterei seine Sporen verdient hat. 2016 hatte sein Kletterpartner Conrad Anker an diesem Berg auf etwa 6.000 Metern einen Herzinfarkt erlitten, Lama musste drei Besteigungsversuche abbrechen. (Die gesamte Vorgeschichte ist in dem hier verlinkten, bei seiner Abreise publizierten STANDARD-Artikel nachzulesen.)

Erstbesteigung

Jetzt, genauer schon am 25. Oktober, hat es Lama im vierten Anlauf geschafft. Es wäre nicht der Lunag, hätte der nepalesisch-tibetische Berg nicht auch 2018 Spompanadeln gemacht. "Der Jetstream ist heuer genau über dem Himalaya gehangen. Ich habe also gewusst, dass ich über die ganze Expedition ein Problem mit dem Wind haben werde", sagt Lama dem STANDARD. Außerdem sei es heuer ein besonders kaltes Jahr gewesen. Das heißt umgerechnet auf den Lunag Ri: Minus 30 Grad und Windspitzen von 80 km/h zum Einstieg.

Der Gipfelsporn.
Foto: Red Bull Content Pool

Der 28-Jährige war schon Tage zuvor in das Advanced Basecamp hochgestiegen, hatte den Rucksack fertig gepackt, war praktisch startklar. Vor dem Start noch ein Telefonat mit Wetterguru Karl Gabl, der sagte: "Nein, verschieb um einen Tag." Nächster Tag, selbes Spiel, übernächster Tag: "Nein, das Wetterfenster, das ich gesehen habe, wird doch nicht auftauchen."

"Das war nicht einfach zu handeln", sagt Lama, er kehrte ein paar Tage ins Basecamp zurück. Das ABC sei zwar einigermaßen windgeschützt, er sei aber auch einmal von einer Böe um einen Meter versetzt worden. Gemütlich geht anders. Lama nützte die Wartezeit, beobachtete die Einstiegswand tagelang mit dem Fernglas und prägte sich die wenigen vorhandenen Schneerillen ein. Ein Bergsteiger braucht den Schnee, auf glattem Fels ist schlecht vertikal klettern.

Erinnerung

Dann aber doch: "Ich hab das letzte mögliche Wetterfenster genützt, um einzusteigen." Der Tiroler startete um 2 Uhr früh, musste dann im Dunklen das eingeprägte Schneelabyrinth korrekt nachklettern. Kurz nach Sonnenaufgang baute er auf etwa 6.400 Metern sein erstes Biwak auf und blieb dort 24 Stunden. "Du hast tausend Meter in den Haxen und musst dich erholen, weil der zweite Tag nicht weniger anstrengend wird." Und: "Es war wirklich kalt."

Wenn David Lama "Es war wirklich kalt" sagt, dann heißt das etwas. "In meinen Schuhen haben sich zwischen meinen Socken um die ganzen Zehen Eiskristalle gebildet." Lama verkroch sich im Schlafsack, in 24 Stunden kann man selbst auf dieser Höhe auftauen. Aber die Kälte wird wiederkommen.

Die Aussicht am Morgen von Tag drei.

Tag zwei: Kletterei auf dem Grat, Biwak. Tag drei: Kletterei. Sonnenschein, Schatten, Mühsal, ein unbestiegener Berg macht keine Geschenke. Lama war vorbereitet und bereit.

Kein Gefühl

Aber die Kälte kam zurück. Lama spürte seine Zehen lange nicht, hatte Sorge, sie womöglich angefroren zu haben. "Ich habe kurz Bedenken gehabt, ob ich es den Gipfel schaffe." Aber das Gefühl kam zurück. "Ich hab mir gedacht: Wird schon passen, wenn sie es einmal ausgehalten haben, halten sie es ein zweites Mal auch noch aus." Also weiter.

Kleiner Mensch, großer Berg.

Eine Drohne machte eindrucksvolle Aufnahmen von dem Kletterer, nun sind sie nach und nach auf seinen Social-Media-Kanälen zu sehen. Man sieht eine einsame Gestalt in dem weiß-grauen Giganten hängen und verliert sie, als die Drohne wegfliegt. Was bleibt, ist eine massive Wand. Und das Rätsel, wie sie ein Mensch bezwingen kann.

Gipfel

"Der Gipfel war schon ein Moment des Glücks", sagt Lama. Wer ihn kennt, weiß, dass derartige Gefühlsbekenntnisse selten sind. "Wenn man klettert, weiß man nicht wie das Panorama war oder der Vogel, der da rumfliegt. Da ist man bei der Sache. Wenn man sich einen Fehler erlaubt, dann gefährdet man nicht nur den Erfolg – sondern auch, dass man gesund runterkommt." Eiserner Fokus, in drei Tagen nur selten durchbrochen. "Wenn man dann am Gipfel ist, kann man für einen kurzen Augenblick loslassen."

Gipfel, Aussicht

Worte wie gewaltig und gigantisch sind in Zeiten der medialen Sinnesüberreizung klein geworden. Für das Gipfelpanorama rund um den Lunag Ri müssen sie wieder wachsen, sonst könnte man es nicht beschreiben. "Ich habe kurz an den Conrad (Anker, Anm.) gedacht. Und dass es sehr schön wäre, wenn er auch hier oben stehen könnte."

Runter

Ob der Lunag Ri wirklich 6.907 Meter oder 6.895 Meter misst, das weiß man nicht so genau. Es könnten durchaus mehr sein, glaubt man den Anzeigen von Lamas Uhr und der mitfilmenden Drohne am Gipfel. Es ist aber auch ziemlich egal. Wer oben ist, muss auch wieder runter. Der Fokus kommt zurück: "Wo platziere ich meine erste Sicherung zum Abseilen, wo seile ich ab?"

David Lama

Lama seilte ab, schickte vom Basislager eine SMS an seinen früheren Kletterpartner Anker, der antwortete. "Das Problem war, dass das Satellitentelefon bei SMS von Nummern aus Amerika nur komische Fragezeichen ausgeworfen hat."

Im Anschluss bestieg der Bergfex mit drei Freunden den Sechstausender Cholatse, auch deshalb veröffentlichte sein Team die Nachricht von der Erstbesteigung erst mit einem Monat Verspätung.

Seit wenigen Tagen ist Lama zurück in Österreich. Von einem erfolgreichen Projekt kommt er entweder extrem motiviert zurück oder geht erstmal alles sehr entspannt an. Und jetzt? "Eigentlich schwer motiviert für den Winter." (Martin Schauhuber, 27.11.2018)