"Man ist sofort extrem angreifbar, wenn man Utopien ausspricht, weil sie naiv klingen. Es ist immer leichter, nur zu kritisieren."

Anna Witt, geboren 1981 in Wasserburg (D), studierte zunächst in München an der Akademie, bevor sie 2005 an die Akademie der bildenden Künste in Wien wechselte, wo sie in der Klasse von Monika Bonvicini Performative Kunst und Bildhauerei studierte. (Abschluss 2008). Sie lebt und arbeitet in Wien, wo sie aktuell in der Gruppenausstellung "Der Wert der Freiheit" im Belvedere 21 vertreten ist. Ebendort war ihr im Frühjahr die Soloausstellung "Human Flag" gewidmet.

Neben zahlreichen Einzelausstellung in Österreich und im deutschsprachigen Ausland, waren ihr Solopräsentationen in Israel, Schweden oder dem Kosovo gewidmet. Sie nahm an zahlreichen internationalen Gruppenausstellungen und Biennalen statt, etwa der 6. Berlin Biennale im Jahr 2010. (kafe)

Webseite der Künstlerin

Foto: Luca Fuchs

"Nächste Woche fahr ich nach Toyota!" Außer dass dort Autos produziert werden, passiere dort nicht viel. Und dennoch – oder vielmehr gerade deshalb – ist es für Anna Witt "ein spannender Ort". Die Künstlerin freut sich auf die bevorstehende Recherchereise ins japanische Detroit, eine Stadt, die ohne den Kfz-Hersteller gar nicht funktionieren würde. Bevor es losgeht, muss sie allerdings noch die Einreichung für einen Wettbewerb in Berlin fertigmachen und – keine Kleinigkeit – heute den renommierten Mrsgr. Otto-Mauer-Preis der Erzdiözese Wien entgegennehmen.

Wie viel identitätsstiftende Kraft steckt noch in dieser politischen Geste, dem Zeichen internationaler Solidarität und antifaschistischen Widerstands? "Gleitzeit" von Anna Witt aus dem Jahr 2010.
Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin

Die Lebensrealität mit gesellschaftlichen Idealen in Reibung zu setzen, sich vor dem Hintergrund von historischen Utopien mit dem zu beschäftigen, "was schiefgelaufen ist", das interessiert die 37-Jährige nicht nur im fernen Japan, sondern ganz generell. Dort, wo die Gesellschaft brüchig wird, wo alte Konzepte – etwa der Erwerbsarbeit, der Solidarität, des Generationenvertrags und der Humanität – nicht mehr aufgehen, setzen ihre in Videos mündenden Performances im öffentlichen Raum an.

Von der Schönen neuen Arbeitswelt im Neoliberalismus, vom Sich-selbst-Adaptieren und -Transformieren erzählt Anna Witts Arbeit "Körper in Arbeit" (2018).
Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin

Faszinierend sind die Settings, in denen Anna Witt die Reibung auseinandergedrifteter Haltungen provoziert. So ließ sie 2016 in einer Shopping-Mall im Schweizer St. Gallen Mitglieder eines Debattierclubs der dortigen Eliteuniversität für Wirtschaft argumentieren – und zwar "gegen die Wahrheit". Auf einer Promotionbühne, wo sonst Kreditkarten an den Mann gebracht werden oder Lokalpolitiker auf Stimmenfang gehen, ließ sie die Führungseliten von morgen eine Rede darüber halten, warum es die Wahrheit nicht braucht: "Das perfekte Training für später."

Anna Witt spielt in Suche nach dem letzten Grund mit völlig unterschiedlichen Orten der Versprechungen. "Die Idee der Wahrheit ist im Grunde total ambivalent. Mir gefiel die Vorstellung, mit Rhetorik einen Wettkampf zu gewinnen, wo es gar nicht um Überzeugung oder die Wahrheit geht." Obendrein ist die Kunst der Rede, in der griechischen Antike eine angesehene Disziplin, spätestens seit ihrer Instrumentalisierung als Mittel politischer Manipulation im Nationalsozialismus in Ungnade gefallen. Wenn man sich heute in Rhetorik schult, redet man besser nicht darüber.

Tanzen zur eigenen Herzfrequenz: Bewohner von Chorweiler, einer Arbeitervorstadt von Köln ("Chorweiler Beat", 2016)
Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin

Die Wahrheit und das Postfaktische

Mehr Gewicht erhielt Witts Beschäftigung mit der Wahrheit aber, als Donald Trump US-Präsident wurde: Da war angesichts seiner "Fake-News"-Rufe plötzlich der Begriff des Postfaktischen virulent. So nah dran zu sein an Dingen, die die Tagespolitik umtreiben, sei keine Absicht. "Als Künstler reflektiert man ja immer seine Zeit", sagt Witt, die 2005 von der Münchner an die Wiener Akademie der bildenden Künste wechselte und bei Monika Bonvicini performative Kunst und Bildhauerei studierte.

Die Performance liegt der 1981 im bayrischen Wasserburg Geborenen. Womöglich habe das schon als Teenager angefangen: "Bei meinen Experimenten bin ich völlig aufgeblüht." Eines dieser Experimente bestand darin, sich auf dem Schulweg in den Schnee zu legen, als sei man tot." Reagiert habe niemand. "Womöglich hat mich an der Schnellstraße niemand sehen können."

Die überaltete Gesellschaft ist Thema von "CARE" (2017), einer Videoarbeit in der Tänzer – viele jenseits der 70 – eine Choreographie in der japanischen Stadt Maebashi aufführen.
Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin

Eigentlich wollte Witt Architektin werden. Aufgewachsen in einer Familie von Architekten, lernte sie aber auch die ganze Bürokratie hinter dem Beruf kennen. Das hat ihn ihr verleidet. "Der klassische Sonntagsspaziergang führte in eine Rohbausiedlung, um dort die Giebelneigung der Häuser zu diskutieren."

Die Fragen, die sie heute umtreiben, betreffen Hierarchien, Stereotype und Gerechtigkeit. Universelles, das sie versucht, in Momentaufnahmen abzubilden und auf das Individuum herunterzubrechen. So forderte sie etwa Leute auf, radikal zu denken, und bekam wunderschöne Zukunftsutopien serviert. "Die Kunst ist ein utopischer Raum, ein Paralleluniversum, wo sich seismografisch messen lässt, wie groß die Freiheit in Wirklichkeit ist."

"Das Gefühl des Nationalismus wird abgeschafft. .... Frauen regeln die Politik....Jeder hat von Gesetz wegen das gleiche Geschlecht." – Ausschnitte aus "Radikal Denken" bei der Anna Witt Leute dazu aufforderte, radikal zu denken. Inzwischen ist die Arbeit an diesem "Manifest" zu einem fortlaufenden Projekt geworden, das sie im Abstand einiger Jahre wiederholt. Ihr gefällt die Idee eines "gedanklichen Fingerabdrucks von einem Ort in einer Zeit."
Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin

Universelles und Gehyptes

Vorhandene Blickwinkel in der Gesellschaft zu ändern ist Anna Witt wichtiger, als absichtlich zu gehypten Themen wie Neoliberalismus, Gender oder Migration zu arbeiten. So hat sie auch ihre Arbeit Durch Wände gehen (2015/2016) schon vor der großen Flüchtlingswelle begonnen. Darin organisierte Witt eine Begegnung von zwei Flüchtlingen in Leipzig, einem jungen Syrer und einer Deutschen, die aus der ehemaligen DDR floh. Die seit 2015 Wellen schlagende Pegida-Bewegung wollte keiner der Beteiligten erwähnen, um dieser keine Stimme zu geben. Als Pegida allerdings beim Dreh vor dem Haus demonstrierte, war es schon allein akustisch nicht möglich, sie zu ignorieren.

Das Anrührende dieser Arbeit ist aber die überraschende Umkehrung der Rollen: Irgendwann vertraute die ostdeutsche Frau ihre komplett verdrängten und auch in der Gesellschaft ganz allgemein nie aufgearbeiteten Fluchterlebnisse dem Syrer an. Sie hoffte, er würde sie vielleicht eher verstehen. Aus dem Hilfesuchenden wurde so eine Art Psychotherapeut.

Dass Witt ihren Akteuren diesen Handlungsraum eröffnet, den sie selbst gestalten können, ist das Besondere an ihrem Werk. Manchmal führt diese emanzipatorische Kraft jedoch auch dazu, dass die Kollaborateure ihrer Filme flügge werden und die neue Mündigkeit gegen sie verwenden: "Das Schönste am Projekt Das Radikale Empathiachat (2018) über eine fiktive Jugendbewegung war, dass sie mich rausgeschmissen haben. Anna, sagten sie, ich glaube, für unsere Bewegung bist du einfach zu alt." (Anne Katrin Feßler, 28.11.2018)

In Empathieachat erlauben sich junge Menschen völlig frei zu denken, über das zu sinnieren, was Gültigkeit hat im Leben und utopische Ideen zu formulieren. Ihre Widerständigkeit übersetzen sie auch in Bewegungen im öffentlichen Raum, wo sie über Hecken oder Gehsteige robben oder – in Anlehnung an die Hauptfigur des Jugendbuchs "Nichts" – auf Bäume klettern.
Courtesy Galerie Tanja Wagner Berlin