Ausschnitt aus "Der Kampf zwischen Fasching und Fasten".
Foto: KHM-Museumsverband

Es wuselt und wimmelt nur so auf den weltberühmten Gemälden von Pieter Bruegel d. Ä. (1525/30-1569). Die detaillierten Szenerien menschlichen Treibens, die sich bis in die hintersten Winkel der Bilder fortsetzen, zwingen die Betrachter, ganz genau hinzusehen. In den obersten Ebenen beim "Turmbau zu Babel", in den Weiten der tiefverschneiten Winterlandschaft von "Die Jäger im Schnee" oder auf den entferntesten Hügeln bei der "Kreuztragung Christi": Überall finden sich winzig kleine Männchen in Aktion – wenn man sie denn entdeckt.

Doch es gibt noch andere Dimensionen in Bruegels wundersamer Bilderwelt zu entdecken, wie die in einem großangelegten Forschungsprojekt entwickelte Webseite "Inside Bruegel" zeigt: etwa jene unter den sichtbaren Farbschichten. Was sich da auftut, ist zum Teil "krass", wie Elke Oberthaler, Gemälderestauratorin des Kunsthistorischen Museums Wien (KHM), schildert. Denn durchleuchtet mit Infrarot- und Röntgenstrahlung kommen Dinge zutage, die der Meister zwar in seinen Unterzeichnungen geplant hatte, die später aber verändert oder schlicht übermalt wurden. So wie eine Leiche mit weit geöffneten Augen und schreckerfülltem Gesicht, die einem aus dem rechten unteren Eck von Der Kampf zwischen Fasching und Fasten förmlich entgegenschaut – allerdings nur in der Röntgenaufnahme.

Die Röntgenaufnahme (re.) zeigt, was von Bruegel in den Unterzeichnungen zwar geplant, später aber übermalt wurde: Die explizite Darstellung eines Toten im rechten unteren Eck.
Foto: KHM-Museumsverband

Übermalt wurden auch zwei Kinder, die an einem Kirchausgang am Boden liegen. Verschwunden sind außerdem eine tote Frau in einem Schubkarren und ein Versehrter mit Krücke. Aus einem Kreuz auf einem Banner, das der Fastenkönig trägt, wurden zwei unverfängliche Fische auf einer Brotschaufel. Unter welchen Umständen diese Darstellungen und Symbole wegretouchiert wurden, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.

Hier Makrofotgrafie gegenübergestellt mit Infrarotreflektografie: Aus einem Prozessionsbanner mit Kreuz wurde eine Brotschaufel mit Fischen.
Foto: KHM-Museumsverband

Dem Meister auf die Finger schauen

Mithilfe von "Inside Bruegel" können Interessierte nun direkt in das Universum des flämischen Malergenies eintauchen, die Bilder quasi mit Röntgenaugen betrachten und damit dem Meister auf die Finger schauen. Das Tool ging parallel zur aktuellen Bruegel-Schau im KHM – der bis dato weltweit größten Werkschau – online und ist Teil eines Forschungsprojekts, das bereits 2012 mit Unterstützung der Getty Foundation gestartet wurde. Um erstmals alle zwölf Bruegels, die im Besitz des KHM sind, digital zu erfassen, wurde in Zusammenarbeit mit einem Team rund um Georg Kartnig vom Institut für Konstruktionswissenschaften und Technische Logistik der TU Wien eigens ein Fotoroboter entwickelt.

Eine computergesteuerte Kamera, die sich innerhalb eines großzügigen Rahmens bewegen kann, rastert das Gemälde automatisch ab und nimmt eine Serie von Bildern auf, die dann zu einer hochauflösenden Reproduktion zusammengesetzt werden können. Die Kamera wird mithilfe von Sensoren automatisch so positioniert, dass feinste Verwölbungen, die auf den Holztafeln entstanden sind, ausgeglichen werden.

Somit bleiben der Abstand zum Bild und die Schärfe der Aufnahmen immer exakt gleich. Bis zu 200 Einzelaufnahmen pro Gemälde ermöglichen einen Zoom auf einen Ausschnitt von bis zu zwei mal zwei Millimetern. Dazu kommen Infrarot-, Infrarotreflektografie- und Röntgenaufnahmen, die in Kombination eine unvergleichliche Entdeckungsreise hinter die Fassaden der Bruegel-Werke ermöglichen – ebenso wie eine äußerst präzise Restaurierung.

Eine computergesteuerte Kamera rastert die Gemälde automatisch ab.
KHM-Museumsverband

Frischer Blick auf alte Werke

Das Projekt werde die Bruegel-Forschung "beflügeln", sagte Restauratorin Elke Oberthaler im Vorfeld eines internationalen Bruegel-Symposiums, das vergangene Woche im KHM stattfand. "Ein derartiges Positioniersystem gibt es in keinem anderen Museum der Welt", betont Stefan Weppelmann, Direktor der KHM-Gemäldegalerie. "Wir machen Kunstgeschichte." Schließlich könne der naturwissenschaftliche Zugang die Sicht auf das Werk Bruegels "ein Stück weit von den kunsttheoretischen Überfrachtungen" befreien, wie die Kuratoren um Oberthaler im Ausstellungskatalog schreiben, und einen "frischen Blick auf Werke, die zu Ikonen unseres Kollektivbewusstseins mutiert sind", ermöglichen.

Der dritte Mann: Die Röntgenaufnahme (ganz unten) von "Die Jäger im Schnee" zeigt, dass der Jäger im Vordergrund erst ganz zum Schluss noch eingefügt wurde.
KHM-Museumsverband

"Es sind keine Vorzeichnungen von Bruegel erhalten", sagt Oberthaler. "Die Unterzeichnungen auf den Gemälden selbst lassen aber auf seine Arbeits- und Denkweise schließen." So hat Bruegel den Mann im Vordergrund des Bildes Die Jäger im Schnee offenbar erst ganz zum Schluss ins Bild gesetzt. "Die Figur führt in die Szene hinein und dient dazu, den Betrachter mehr einzubeziehen", beschreibt Oberthaler. Bei der Analyse habe es "viele Überraschungen" gegeben, die zeigen, "wie extrem effizient und clever, mit welchem einzigartigen malerischen Verständnis" der große Meister gearbeitet habe, schwärmt die Restauratorin.

Nach wie vor ist sich die Fachwelt nicht einig über Bruegels Intentionen und seine Rolle als Moralist, Humanist beziehungsweise Gesellschaftskritiker. Fest stehe, er "strotzt vor Innovationen in seinen Erzählungen über die menschliche Natur", sagt Weppelmann. Die lupenreine Digitalisierung könne die Wirkmacht der Bilder nun möglichst vielen Menschen eröffnen – und den Blick schärfen für die Originale im Museum. (Karin Krichmayr, 14.12.2018)