Die routinemäßige Durchführung von Kaiserschnitten ist zum evolutionären Faktor geworden.

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Wien – Lange Zeit war angenommen worden, dass die Errungenschaften der Zivilisation den erbarmungslosen natürlichen Ausleseprozess unterlaufen haben und damit eine weitere Evolution des Menschen verhindern. Eine Reihe von Studien in jüngerer Vergangenheit hat dem widersprochen und darauf hingewiesen, dass auch heute noch Trends erkennbar seien, die man als evolutionäre Entwicklung betrachten könnte – etwa der, dass die Menopause bei Frauen heute im Schnitt später stattfindet als in vorindustrieller Zeit.

Auf bemerkenswert schnelle Entwicklungen, die genau jetzt ablaufen, macht nun der Wiener Biologe Philipp Mitteröcker im Fachmagazin "Nature Ecology & Evolution" aufmerksam. Einer der Trends betrifft das Wechselspiel zwischen der Breite des weiblichen Beckens und der Größe des kindlichen Schädels bei der Geburt.

Schädel vs. Becken

Der aufrechte Gang machte die menschliche Geburt zu einem Balanceakt, so Mitteröcker, der am Department für Theoretische Biologie der Universität Wien arbeitet. Ein möglichst breites weibliches Becken gewährleistet eine sichere Geburt, ein schmales trägt aber das Gewicht der inneren Organe besser. Ein großes Baby hat bessere Überlebenschancen, riskiert jedoch, nicht durch den Geburtskanal der Mutter zu passen. Entgegengesetzte Selektionsdrücke führten so zu einem prekären Gleichgewicht, das durch moderne Gesundheitssysteme aber ausgehebelt wird.

"Die nahezu gefahrlose Durchführung von Kaiserschnitten hat die Geburtshilfe ab den 1950er Jahren revolutioniert und damit auch dieses evolutionäre Gleichgewicht aufgelöst", sagt Mitteröcker. "Weil seitdem auch Frauen mit schmalen Becken problemlos große Kinder zur Welt bringen können, verschwanden die Selektionsdrücke für einen weiten Geburtskanal und kleine Neugeborene fast vollständig".

Der neue Trend

Evolutionär bevorzugt sind nunmehr Frauen mit schlanker Hüfte und Riesenbabys. "In den vergangenen 60 Jahren nahm dadurch die Rate an Schädel-Becken-Missverhältnissen um etwa einen halben Prozentpunkt zu", bilanziert der Forscher. Wenn von zwei Selektionsdrücken einer durch medizinische Fortschritte reduziert wird, können sich durch den verbleibenden "Gegenspieler" binnen weniger Jahrzehnte körperliche Eigenschaften durchsetzen, die zuvor nachteilig gewesen wären.

Im Fall "Frauenbecken gegen Kinderkopf" sei aber das letzte Wort noch nicht gesprochen. Durch die immer besser werdende Neugeborenen-Versorgung haben nämlich auch sehr kleine Säuglinge immer bessere Überlebenschancen. Gleichzeitig reduziert die vermehrte Behandlung von Beckenbodenschwächen die Selektion hin zu schmäleren Becken. Das evolutionäre Rennen ist also noch offen.

Fall 2: Sichelzellenanämie

Als weiteres Beispiel für ein evolutionäres Gleichgewicht, das durch die moderne Medizin durcheinander gebracht wird, nennt Mitteröcker die Sichelzellenanämie. Dabei handelt es sich um eine sehr häufige genetisch Erkrankung mit Kindersterblichkeiten in Afrika von bis zu 50 bis 90 Prozent.

Soweit die negative Auswirkung, sie betrifft Menschen mit zwei Sichelzellgenen. Menschen mit nur einem Sichelzellgen haben hingegen den Vorteil, dass sie teilweise vor Malaria geschützt sind, einer nicht minder großen Bedrohung: Pro Jahr sterben mehr als eine Million Menschen an der Infektionskrankheit.

Aus diesem Für und Wider hat sich ein Gleichgewicht ähnlich dem in Sachen Beckengröße ergeben: Der Selektion gegen Sichelzellenanämie steht die Selektion für Malariaresistenz entgegen. Fortschritte in der Behandlung von Sichelzellenanämie führen allerdings zu einer Veränderung dieses Gleichgewichts: Der aus den Sichelzellgenen entspringende Nachteil fällt nicht mehr so stark ins Gewicht und die Evolution schlägt eine entsprechende Richtung ein: Berechnungen zufolge wird die Zahl der Betroffenen von etwa 300.000 im Jahr 2010 auf über 400.000 bis zum Jahr 2050 zunehmen. (red, APA, 17. 12. 2018)