Wien – Kurz vor dem Mordprozess gegen einen 16-Jährigen, der am 11. Mai 2018 in Wien-Döbling eine Siebenjährige getötet haben soll, ist ein zweites von der Justiz in Auftrag gegebenes psychiatrisches Gutachten eingelangt. Der Inhalt ist brisant. Demnach war der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nicht zurechnungsfähig und damit nach Ansicht des zweiten Gutachters nicht schuldfähig.

Damit widerspricht Werner Gerstl, Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendneuropsychiatrie und allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger in Linz, dem von der Staatsanwaltschaft bestellten Erstgutachter Peter Hofmann. Der führende Gerichtspsychiater war zu dem Schluss gekommen, dass der 16-Jährige im Tatzeitpunkt zwar eine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung und eine Zwangsstörung aufwies. Seine Diskretions- und Dispositionsfähigkeit waren laut Hofmann allerdings nicht aufgehoben, sodass nach dessen Dafürhalten Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit gegeben waren.

Hofmann empfahl für den Fall eines Schuldspruchs wegen Mordes die Unterbringung des Jugendlichen in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, weil er diesen für derart gefährlich hält, dass ohne im Maßnahmenvollzug gewährleistete therapeutische Behandlung neuerlich mit Straftaten mit schweren Folgen gerechnet werden muss.

"Handlungsbestimmende Kräfte"

166 Seiten umfasst das Gutachten von Werner Gerstl, das inzwischen auch der APA vorliegt. Am Ende seiner Ausführungen kommt der Linzer Facharzt für Kinderheilkunde und Kinder- und Jugendneuropsychiatrie zum Ergebnis, dass im Tatzeitpunkt eine Schizophrenie und Zwangsstörungen als "handlungsbestimmende Kräfte" wirksam waren, die beim Angeklagten eine Zurechnungsunfähigkeit bewirkt haben sollen.

Laut Gerstl dürfte es beim Angeklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der fünften Klasse Mittelschule zum Abbau von Interessen, zur Störung der Konzentration und einem von einer Psychose verursachten Leistungsknick gekommen sein, die der Sachverständige auf eine Frühform einer Schizophrenie zurückführt. Diese habe sich bis zur gegenständlichen Straftat über Monate symptomatisch weiterentwickelt. Insofern habe "eine psychopathologische Kontinuität bestanden".

Gerstl ist überzeugt, dass – bezogen auf die Bluttat – "die Folgen der über lange Zeit unentdeckten und fachlich unversorgten Schizophrenie [...] handlungsbestimmend waren". Mit "hoher Wahrscheinlichkeit" dürfte der Bursch versucht haben, seine Eltern "auf [...] Veränderungen seiner Wahrnehmungsqualität aufmerksam zu machen". In der Familie hätten aber sowohl die Einfühlbarkeit als auch das Wissen um solche Phänomene gefehlt beziehungsweise seien die Wesensveränderungen des Burschen verdrängt worden, vermutet der Gutachter.

"Nur eine kleine Minderheit an Schizophrenie erkrankter Menschen begeht ein Tötungsdelikt", hält Gerstl fest. Statisch gesehen hätten jedoch Betroffene ohne entsprechende Behandlung nach einer längeren Zeit ein "stark erhöhtes Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen". (APA, 17.12.2018)