Am 29. März soll Großbritannien aus der EU austreten.

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Zu Jahresbeginn, 87 Tage vor dem geplanten Austrittstermin, analysiert eine Vielzahl von Umfragen die Brexit-Einstellung wichtiger Bevölkerungsgruppen. Wichtige britische Ökonomen beurteilen die Wirtschaftsaussichten wegen der "umfassenden und chronischen Unsicherheit" pessimistisch. Fast drei Viertel der Labour-Mitglieder positionieren sich gegen den EU-Austritt und fordern ein zweites Referendum, was Oppositionsführer Jeremy Corbyn in die Bredouille bringt. In Nordirland spricht sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung für eine Wiedervereinigung mit der Republik im Süden aus, falls der Brexit die Offenheit der Grenze beeinträchtigt.

Nach zehntägigem "Waffenstillstand" ist damit der Streit über das politische Hauptthema des vergangenen wie des neuen Jahres voll entbrannt – ein Wetterleuchten vor dem parlamentarischen Schlagabtausch, der Mitte des Monats in der Abstimmung über den Austrittsvertrag gipfeln soll.

Premierministerin Theresa May warb in ihrer Neujahrsansprache für ihren "guten Deal": Wenn das Parlament nur endlich dem mit Brüssel vereinbarten Paket zustimme, könne das Land "einen wichtigen Schritt vorankommen".

So eifrig beschwor die Konservative die Einheit des Landes, die es nach dem spaltenden Referendum von 2016 wiederherzustellen gelte, dass sie sogar vergaß, den Untertanen Ihrer Majestät ein frohes 2019 zu wünschen. "Ich weiß, dass wir erfolgreich sein können bei dem, was uns bevorsteht", sagte May – sie sah nicht so aus, als traue sie ihrer eigenen Rhetorik.

Wohl Absage an Brexit-Deal

Bisher spricht jedenfalls alles dafür, dass die Unterhausabgeordneten dem Brexit-Paket eine Absage erteilen werden. Ihren zahlreichen Kritikern, nicht zuletzt in der eigenen Fraktion, hat May greifbare Zugeständnisse versprochen. Deshalb müssen sich die EU-Partner auf Bettelanrufe aus London gefasst machen. Eines der wichtigsten Themen dürfte dabei die innerirische Grenze sein: Um diese auch in Zukunft so offen wie möglich zu halten, könnte Nordirland nach der geplanten Übergangsphase bis Ende 2020 einen Sonderstatus erhalten, was nicht zuletzt die nordirische Unionistenpartei DUP ablehnt.

Dass die protestantischen Hardliner damit, wie beim Referendum 2016, nicht den Mehrheitswillen widerspiegeln, belegt eine Lucid-Talk-Umfrage für die "Times".

Dieser zufolge würden selbst im Fall, dass Mays Paket durchgeht und damit die Grenze geöffnet bleibt, 48 Prozent der Nordiren bei einem hypothetischen Votum "mit Gewissheit" oder "wahrscheinlich" für die Vereinigung mit Dublin stimmen. Sollte das Vereinigte Königreich die EU ohne Deal verlassen, steigt dieser Anteil sogar auf 55 Prozent.

"Müssen uns vorbereiten"

Die Vereinigungsabstimmung ist als Möglichkeit im Karfreitagsabkommen von 1998 vorgesehen, steht bisher aber nicht auf der Tagesordnung. Selbst vehemente Brexit-Kritiker wie die nordirische Politikprofessorin Deirdre Heenan halten Forderungen nach einem baldigen Referendum für "unverantwortlich", aber: "Wir müssen uns darauf vorbereiten."

Schon bisher haben tausende Briten, die unter ihren Ahnen Iren glaubhaft machen konnten, EU-Pässe aus der Republik beantragt, um zumindest selbst in der EU bleiben zu können, wenn ihr Land die Union schon verlässt.

Wie die Einheit des Vereinigten Königreichs bedroht der bevorstehende EU-Austritt auch die Geschlossenheit der größten Oppositionspartei. Labour-Chef Corbyn bezeichnete Mays Brexit-Politik als "komplettes Schlamassel", blieb aber eigene Antworten schuldig. Sollte der altgediente Kämpfer für die Rechte der Parteimitglieder seiner Linie treu bleiben, müsste er sich von seiner Europaskepsis lossagen: Yougov zufolge wollen 72 Prozent der Parteimitglieder ein neues Referendum, 88 Prozent würden für den EU-Verbleib stimmen.

Wenig inspiriert vom EU-Austritt zeigen sich jene Ökonomen, die von der "Financial Times" zu den Aussichten der britischen Volkswirtschaft befragt wurden. Bestenfalls werde das Land um 1,5 Prozent wachsen. Eine Mehrheit mochte aber gar keine Prognose abgeben. "Wir wissen doch gar nicht, welcher Brexit aus dem Nebel hervorgeht", sagt Professor Charles Goodhart von der London School of Economics (LSE). (Sebastian Borger aus London, 3.1.2019)