Demonstration in Belgrad.

Foto: OLIVER BUNIC / AFP

Während die Schneeflocken sanft auf den bunten Pudelmützen der Demonstranten landen, werden die Trommeln immer lauter, Hupen ertönen, die Trillerpfeifen schrillen durch den Winter. Es wird ein langer Spaziergang durch die Belgrader Innenstadt werden. Vor der philosophischen Fakultät haben sich bereits tausende Menschen eingefunden. Sie gehen langsam, sie reden miteinander, und sie reden vor allem über ihn, den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. Sein Kürzel AV wird von manchen in "AlKapone" umgeschrieben.

"Der kann ja da oben an der Macht sitzen, aber deshalb braucht er noch nicht glauben, dass wir dumm sind und nicht wissen, dass der Angriff auf den Oppositionspolitiker Borko Stefanović orchestriert war", sagt der 19-jährige Miloš N., der eigentlich nie auf Demos geht und so wie andere Demonstranten seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, aber dem das "jetzt einfach zu viel" war.

Atttacke auf Oppositionspolitiker

Stefanović wurde mit einigen Kollegen am 23. November vor einer Veranstaltung in Kruševac von maskierten Männern angegriffen und am Kopf verletzt. Der Oppositionspolitiker von der Partei "Die Linke" beschuldigte danach die Serbische Fortschrittspartei (SNS) und Vučić, hinter der Attacke zu stecken. Die Gewalttat war Auslöser der Proteste. Damals ging man noch gegen "blutige Hemden" auf die Straße – denn Stefanović hatte sein von Blut beflecktes Gewand gezeigt. Heute lautet das Motto "Eine(r) von fünf Millionen".

Am 9. Dezember hatte Vučić einen Satz gesagt, der nun wie ein Bumerang zu ihm zurückschnellt: "Geht ruhig auf die Straße, eine Meile lang, wie ihr wollt. Aber ich werde euch nicht eine Forderung erfüllen! Selbst wenn sich fünf Millionen von euch versammeln." Die Protestbewegung nahm dieses Zitat auf, viele Demonstranten nennen sich nun "Eine(r) von fünf Millionen". Der Hashtag zieht. Freilich sind es nicht Millionen, die demonstrieren, aber doch mehrere zehntausend.

Respektlosigkeit gegenüber den Bürgern

"Vučić ist egal, was wir Bürger denken oder was wir Bürger wollen, selbst wenn fünf Millionen von uns etwas wollen. Das ist respektlos für eine Demokratie." Miloš N. drückt etwas aus, was hier viele auf die Straße treibt. Der junge Mann mit dem grünen Anorak und der grünen Mütze glaubt nicht, dass "Vučić durch die Demos abgesetzt werden kann. Aber er soll wissen, dass wir da sind und dass wir uns nicht alles gefallen lassen."

Es ist bereits der fünfte Samstag in Folge, dass Zehntausende durch die Eiseskälte spazieren und am Ende zu Rap-Musik tanzen. Am Samstag forderten prominente Schauspieler auch, dass das öffentliche Fernsehen nicht zu Propagandazwecken der Regierung und des Präsidenten missbraucht werden sollte. Eine alte Frau hält einen Besen in der Hand, mit dem sie offenbar die Mächtigen verjagen will.

Unsichere Zeiten für Journalisten

Viele fordern mehr Demokratie, Transparenz und Medienfreiheit. Die Situation ist tatsächlich zunehmend prekär. Reporter ohne Grenzen stellte kürzlich fest, dass Serbien unter Vučić zu einem Land geworden ist, in dem es unsicher ist, ein Journalist zu sein. Zahlreiche Reporter werden tätlich angegriffen, diese Attacken werden nicht aufgeklärt. Zur Zeit liegt Serbien auf der Liste der Pressefreiheit weltweit an der 76. Stelle und ist damit im Vergleich zum Vorjahr um zehn Plätze gefallen.

Der 47-jährigen Jasna B. geht es auf die Nerven, dass "im Fernsehen nur dieser Mensch auftaucht". Tatsächlich ist Vučić omnipräsent. Sie hat Hoffnung, dass sich die Bürger wehren – doch auch wenn die Zahl der Demonstranten beträchtlich ist, so handelt es sich doch um städtische bürgerliche Eliten, die hier den Aufstand wagen. Die große Mehrheit der Serben hat sich an autoritäre Verhältnisse gewöhnt. Das kommunistisch-autoritäre Einparteienregime ging ja auch nahtlos in eine Ethnokratie über, in der eine dünne demokratische Fassade die tiefgreifende Vormachtstellung der dominanten ethnischen Gruppe verhüllen sollte. Und auch heute noch verlangt Vučić die "Abgrenzung von den Albanern".

"Antiserbische Politik"

Diese Ethnopolitik hat tiefe Spuren in der serbischen Gesellschaft hinterlassen. Der 25-jährige Nemanja R. trägt ein Banner, auf dem das Wort "Nato" mit einem roten Balken durchgestrichen ist. Aber was hat die Nato mit Vučić zu tun? "Die Nato ist eine nazistische Organisation, die uns okkupiert und bombardiert hat", meint Nemanja. "Und Vučić will den Kosovo anerkennen. Dagegen bin ich. Denn das ist eine antiserbische Politik."

Ein Stück weiter vorne gehen Demonstranten, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen. Dahinter stapfen Studenten, die verlangen, dass Politiker nicht mehr ungestraft ihre akademischen Arbeiten plagiieren. "Geh, damit ich bleiben kann!", steht auf einem Schild, das offenbar auch an Vučić gerichtet ist. Daneben laufen ältere Männer, die fordern: "Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!" Manche postulieren: "Wir sind aus dem Volk!" Eine junge Frau bringt dieses Sammelsurium an Ideen mit einem Spruch auf ihrem Rücken auf den Punkt: "#Gegen das Nicht-Normale", steht da.

Mehr Einfluss als Milošević

Insgesamt ist es eine wilde Mischung von Demonstranten, die sich seit Anfang Dezember Samstag für Samstag in der serbischen Hauptstadt zusammentut. Eigentlich eint sie nur eines: die Kritik an den politischen Verhältnissen unter Vučić, der in den vergangenen Jahren immer mehr Macht bei sich versammelte und mittlerweile mehr Einfluss habe, als Slobodan Milošević in den 90er-Jahren hatte.

"Er ist absolut mit Milošević zu vergleichen", sagt Jasna B. "Nur der geschichtliche Kontext ist anders. Der Milošević hat verursacht, dass wir bombardiert wurden. Wir werden sehen, was uns Vučić bringt." Die Demonstranten nennen Vučić einen "Autokraten", manche sogar einen "Tyrannen". Als einer den Ruf "Vučić, Dieb!" anstimmt, schauen sich manche um, um sicherzugehen, dass niemand beobachtet, wenn sie mitschreien. An manchen Fenstern sind Menschen zu sehen, die mit ihren Handys die Demonstranten filmen. Im Mittelpunkt der Demonstrationen steht die Forderung nach einer politischen Moral – statt der Dauerpropaganda und Selbstbeweihräucherung.

Kontrolle über die Institutionen

Die 42-jährige Pharmazeutin Irena S. stört, dass Vučić und seine Partei "alle Institutionen im Staat kontrollieren". Sie glaubt nicht, dass die allmächtige Fortschrittspartei die Macht einbüßen könnte. Dazu sei sie zu fest verankert. "Aber es ist wichtig, dass wir unseren Widerstand ausdrücken", meint die Frau mit den in der Kälte rot angelaufenen Wangen. Vučićs Regierungsweise erinnert tatsächlich an jene von Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan, mit dem sich Vučić bestens versteht.

Sauer sind manche Demonstranten, dass Vučić von sämtlichen EU-Vertretern – sei es EU-Kommissar Johannes Hahn, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini oder der österreichische Kanzler Sebastian Kurz – hofiert wird. Die EU-Kommission will etwa, dass der Kosovo und Serbien einen international gültigen Vertrag abschließen. An die Transformationskraft der EU, mehr Demokratie und Bürgerrechte zu schaffen, glaubt hier kaum jemand mehr. Die Demonstranten wollen die Sache selbst in die Hand nehmen. Insofern sind die Proteste in den serbischen Städten durchaus ein Ausdruck eines politischen Reifungsprozesses. (Adelheid Wölfl aus Belgrad, 7.1.2018)