Wer arbeitet, hat einen strukturierten Alltag, trifft Menschen und verdient Geld: Vor allem für junge MS-Kranke ist diese soziale Integration wichtig.

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Ganz generell mag das menschliche Gehirn einfache Einteilungen. Schwarz und Weiß, Gut und Böse oder Oben und Unten: Das sind simple Kategorien. In bestimmten Bereichen führt diese Tendenz zur Vereinfachung, aber auch in die Sackgasse. Zum Beispiel dann, wenn es um Krank und Gesund geht. Dank des medizinischen Fortschritts verschwimmen im 21. Jahrhundert die Grenzen. Multiple Sklerose ist ein recht eindrückliches Beispiel dafür.

Es gibt insgesamt 13.500 Menschen in Österreich, die mit dieser Diagnose zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr konfrontiert sind. Frauen erkranken viermal häufiger als Männer. Sie wissen, dass sie es mit einer chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems zu tun haben, wissen allerdings nicht, wie diese sich schubförmig verlaufende Erkrankung entwickeln wird, das heißt, wann sie den nächsten Schub haben und ob damit eine Verschlechterung des Allgemeinzustands verbunden ist.

"Nur bei der Hälfte aller Patienten kommt es circa 15 bis 20 Jahre nach der Diagnose zu einem progredienten Verlauf", erklärt der MS-Experte Thomas Berger, der im November 2018 die Professur für Neurologie an der Medizinischen Universität Wien übernommen hat. Zwar könnten, so Berger, Motorik, Koordination, Sehvermögen oder Kognition beeinträchtigt sein, "dennoch muss damit nicht automatisch eine Arbeitsunfähigkeit verbunden sein". Nur bei circa zehn Prozent der Erkrankten nimmt MS von Anfang an einen sehr schweren Verlauf.

Niemals eindeutig

Um solche Beeinträchtigungen objektiv messbar zu machen, gibt es die sogenannte EDSS (Expanded Disability Status Scale), die den Schweregrad auf einer Skala von eins bis zehn festlegt. Allerdings: Die Aussagekraft bezüglich der Arbeitsfähigkeit ist begrenzt. "Bei rein körperlichen Tätigkeiten ist eine Arbeitsunfähigkeit deutlich schneller erreicht als bei einem Bürojob. Gerade bei geistigen Tätigkeiten können MS-Patienten auch dann noch tätig sein, wenn sie körperlich bereits deutlich eingeschränkt sind", sagt Jörg Kraus, Neurologe in Zell am See und aktueller Präsident der Österreichischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Und beide erinnern an den wichtigen Umstand, dass MS-Patienten oft junge Erwachsene sind, die ihr Leben noch vor sich haben.

Alarmierend für MS-Experten waren deshalb auch die Ergebnisse der europaweit durchgeführten Cost-of-Illness-Studie, bei der 17.000 MS-Patienten im erwerbsfähigen Alter zu ihren gesundheitlichen Einschränkungen und ihrer Arbeitsfähigkeit befragt wurden. Die Daten zeigen, dass selbst bei einem leichten Behinderungsgrad von EDSS 3 nur noch etwa 50 Prozent der MS-Patienten im Arbeitsleben stehen.

Weitere Ergebnisse: 73 Prozent der arbeitenden MS-Patienten berichten, dass die Krankheit ihre Produktivität beeinträchtige. "Als besonders unangenehm erleben Patientinnen das Fatigue-Syndrom", sagt Berger, eine krankheitsbedingte schnelle Erschöpfung, aber auch eingeschränkte Mobilität, Beeinträchtigung der Wahrnehmung oder Schmerzen werden als belastend erlebt. "Oft muss man mit diesen Symptomen aber nur richtig umgehen, um trotzdem arbeiten zu können", sagt Kraus.

Unterstützung und Verständnis

Entscheidend für die Arbeitsfähigkeit sei, wie sehr Unternehmen ihren Mitarbeitern entgegenkommen. Vor allem in Bürojobs könne mit flexiblen Modellen viel erreicht werden. Kraus nennt Teilzeitarbeitsmodelle und Home-Office-Tage als Möglichkeiten. "MS kann zwar nicht geheilt, mit der richtigen Medikation aber sehr erfolgreich behandelt werden. Bei vielen Patienten kommen Schübe nur noch selten vor", erinnert der Neurologe Kraus und plädiert für ein Umdenken. MS galt früher als "schwere Diagnose", die insofern nicht nur Betroffene, sondern auch das Umfeld und Arbeitgeber verunsicherte. Das habe sich verändert. "Integrieren statt stigmatisieren", wünscht er sich deshalb, denn ganz besonders belastend ist die Situation für MS-Patienten, die ihre Erkrankung verheimlichen.

Marlene Schmid, heute Obmann-Stellvertreterin und Patientenbeirat der Multiple-Sklerose-Gesellschaft Tirol und selbst Betroffene hat es erlebt. Als ihre Erkrankung in den 1990er-Jahren ausbrach und sich verschlechterte, entschied sie sich für eine Invaliditätspension. "Heute würde ich versuchen, im Arbeitsleben zu bleiben. Denn neben dem Verlust des Gebrauchtwerdens hatte ich massive finanzielle Einbußen. Und wer kein Geld hat, kann auch nur eingeschränkt am Sozialleben teilnehmen", berichtet sie. Abgesehen von der wichtigen psychotherapeutischen Unterstützung verweist Schmid aber auch auf eine Reihe von arbeitsmarkttechnischen Fördermöglichkeiten, etwa die Inanspruchnahme von Arbeitsassistenten, die aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden und MS-Patienten unterstützen.

Staatliche Fördermodelle

Bernhard Rupp von der Abteilung Gesundheitspolitik in der Kammer für Arbeiter und Angestellte verweist auf vorhandene Tools, die es für Arbeitgeber heute schon gibt: etwa das Programm Fit2work oder die befristete Arbeitszeitreduktion nach den Regeln des Wiedereingliederungsgesetzes. "Für beides gibt es leider noch keinen Rechtsanspruch. Das heißt, dass Unternehmen freiwillig mitmachen müssen" , sagt er. Generell sei aber ein Umdenken bezüglich krank und gesund in der Gesellschaft notwendig, so Rupp. Von den 4,3 Millionen Erwerbstätigen sind heute mehr als zwei Millionen chronisch krank. "An einer Anpassung der Arbeitsumstände führt also in naher Zukunft kein Weg vorbei", so Rupp.

"Mehr Information führt zu mehr Verständnis", ist Karin Krainz-Kabas, Geschäftsführerin der Multiple-Sklerose-Gesellschaft Wien, überzeugt und kämpft an dieser Front mit einer Reihe von Aufklärungsangeboten. "Arbeitgeber müssen wissen, dass nach schwierigen Phasen wieder gute kommen, und sich danach richten können", sagt sie. Und oft sei es für MS-Patienten in Bürojobs ja auch eine einfache, aber massive Erleichterung, wenn sie einen eigenen Drucker neben dem Schreibtisch bekommen.

Medizinisch, so der Neurologe Thomas Berger, sei es also nicht nur eine Herausforderung, multiple Sklerose besser behandelbar zu machen, sondern auch, ihre Begleiterscheinungen wie das Fatigue-Syndrom oder Depressionen besser in den Griff zu bekommen. Denn ganz klar: MS ist eine komplexe Erkrankung, die sich jeder Vereinfachung entzieht und von Mensch zu Mensch unterschiedlich erlebt wird. Sein Ziel: dass die Patienten trotz MS relativ gut leben zu können. (Karin Pollack, 14.1.2019)