2018 war das Jahr, in dem die SF-Rundschau fast so gute Prognose-Ergebnisse einfuhr wie einst Krake Paul: Eine ganze Reihe Bücher, die hier schon anhand der Originalausgabe besprochen und gelobt worden waren, erschienen in den vergangenen zwölf Monaten auch auf Deutsch. Ohne sie wäre das Jahres-Best-of unvollständig, darum seien diese Wiedergänger in Sachen Lesevergnügen noch einmal kurz genannt.

Elan Mastais retrofuturistische Zeitreisegeschichte "Die beste meiner Welten", Matt Ruffs Verknüpfung von Rassismus mit dem Cthulhu-Mythos "Lovecraft Country" und Daryl Gregorys "Die erstaunliche Familie Telemachus" über eine Familie von "Löffelverbiegern" sind drei Fälle, in denen es vordergründig um Spaß geht, die aber allesamt nachwirken. Und während sie eher in die Vergangenheit blicken, sind Mur Laffertys Weltraum-Krimi "Das sechste Erwachen" und Cory Doctorows Prognose der weltwirtschaftlichen Entwicklung in "Walkaway" auf die Zukunft ausgerichtet. Zeit- und fast auch ortlos ist Peter Terrins Thriller "Der Wachmann", dessen Hauptfiguren nicht wissen, ob außerhalb ihrer Parkgarage die Apokalypse stattgefunden hat.

Und so geht es weiter: Auf den nächsten Seiten folgen in kurzer Einzelvorstellung die besten Phantastik-Bücher des Jahres im Rückblick, danach noch fünf Ergänzungen in langer Form. Wer den Wiederholungsteil überspringen will, der nutze diesen Shortcut. Und los geht's.

Fotos: Goldmann, Liebeskind, Eichborn, Carl Hanser, Heyne

Adrian Tchaikovsky: "Die Kinder der Zeit"

Broschiert, 670 Seiten, € 16,50, Heyne 2018 (Original: "Children of Time", 2015)

Wenn es nach den geposteten Leserreaktionen geht, war das hier eindeutig der SF-Roman des Jahres. Ein Gentechnik-Experiment auf einem Exoplaneten geht schief, und statt Schimpansen erlangen Springspinnen Intelligenz. Adrian Tchaikovsky schildert mit viel Sympathie, wie die Achtbeiner eine Zivilisation aufbauen und diese unvermeidlicherweise mit der der Menschen auf Kollisionskurs gerät. Ein Evolutionsepos der Meisterklasse!

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Foto: Heyne

Martha Wells: "Artificial Condition", "Rogue Protocol" & "Exit Strategy" ("The Murderbot Diaries" 2 bis 4)

Broschiert, 160 / 160 / 176 Seiten, Tor Books 2018, Sprache: Englisch

Und das hier war das Einzige, was in Sachen Popularität mit Adrian Tchaikovsky mithalten konnte. Niemand vermochte sich 2018 dem "Charme" von Murderbot zu verschließen: einem grummeligen Kampf-Cyborg, der einfach nur in Ruhe gelassen werden möchte und sich doch immer wieder in der Beschützerrolle für uns nervtötende Menschen wiederfindet. Wüsste Murderbot, wer sehr es von den Lesern geliebt wird, würde es sich peinlich berührt zur Wand drehen und hoffen, dass wir alle weggehen.

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Foto: Tor Books

Dennis E. Taylor: "Ich bin viele" & "Wir sind Götter" (Bobiverse 1 und 2)

Broschiert, 461 Seiten, € 15,50, Heyne 2018 (Original: "We Are Legion", 2016) &

Broschiert, 448 Seiten, € 15,50, Heyne 2018 (Original: "For We Are Many", 2017)

Bob, ein "Star Trek"-Fan unserer Tage, wird in die Zukunft versetzt und findet sich als digitale Intelligenz wieder, die eine Raumsonde steuern soll. Als die Sonde Ableger produziert, vermehrt sich auch Bob, schickt seine Kopien von Sternsystem zu Sternsystem und mausert sich langsam zum guten Geist der Galaxis. Ein großer Spaß, und der wird noch heuer mit dem dritten Teil fortgesetzt!

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Fotos: Heyne

Sue Burke: "Semiosis"

Gebundene Ausgabe, 336 Seiten, St. Martin's Press 2018, Sprache: Englisch

Ihr beeindruckendes (und spätes) Romandebüt gestaltet Sue Burke als generationenübergreifende Chronik der Besiedelung eines anderen Planeten. Erst spät bemerken die menschlichen Kolonisten, dass hier schon intelligentes Leben vorhanden ist: nämlich in Form eines Pflanzenwesens, das höchst manipulativ ist und uns mit seinen giftigen Ranken trotzdem ans Herz wachsen wird.

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Foto: St. Martin's Press

Dan Wells: "Die Formel"

Klappenbroschur, 524 Seiten, € 16,50, Piper 2018 (Original: "Extreme Makeover", 2016)

Dieses Buch war irgendwie die Überraschung des Jahres. Aus einer eigentlich superdämlichen Prämisse macht Dan Wells einen extrem unterhaltsamen Roman: Ein Kosmetikkonzern entwickelt eine Hautcreme, die die DNA des Benutzers überschreibt – und ihn in einen Klon dessen umwandelt, der die Creme zuvor berührt hat. Das Ergebnis ist eine Apokalypse, wie man sie noch nie gelesen hat.

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Foto: Piper

Philip Reeve: "Mortal Engines. Krieg der Städte" und "Jagd durchs Eis"

Klappenbroschur, 334 Seiten, € 12,40, Fischer Tor 2018 (Original: "Mortal Engines", 2001) &

Klappenbroschur, 368 Seiten, € 12,40, Fischer Tor 2018 (Original: "Predator's Gold", 2003)

Städte, die durch die Gegend rollen und einander auffressen: Was will man mehr! Philip Reeves äußerst unterhaltsames Quartett von Dieselpunk-Romanen erscheint nun endlich auch auf Deutsch zur Gänze. Teil 1 (von Peter Jackson erst kürzlich verfilmt) und 2 sind bereits erhältlich, 3 und 4 folgen noch heuer. Young-Adult-SF, die längst Klassikerstatus hat.

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Fotos: Fischer Tor

N. K. Jemisin: "Zerrissene Erde"

Klappenbroschur, 494 Seiten, € 15,50, Knaur 2018 (Original: "The Fifth Season", 2015)

Die US-amerikanischen Culture Wars haben es mit sich gebracht, dass an beiden Enden des Spektrums Autoren propagiert werden, die eine moderate schriftstellerische Begabung mit der jeweiligen politischen Wunscheinstellung "kompensieren". Nicht so hier: N. K. Jemisin ist zwar auch fest in einem Lager verankert – aber zugleich eine begnadete Erzählerin. Dieser Trilogie-Auftakt entwirft eine Fantasy-Welt, in der Menschen kraft ihres Geistes tektonische Prozesse beeinflussen können. Und das ist nur der Hintergrund für die genial konstruierte Geschichte einer persönlichen Entwicklung.

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Foto: Knaur

Peter Watts: "The Freeze-Frame Revolution"

Broschiert, 192 Seiten, Tachyon Publications 2018, Sprache: Englisch

Paranoia und Sense of Wonder sind nicht unbedingt zwei Empfindungen, die Hand in Hand gehen, aber Peter Watts hat's geschafft. Die Helden seiner famosen Novelle sind Raumfahrer, die mit Unterlichtgeschwindigkeit durch die Galaxis ziehen, um Sternentore zu installieren – und zwar seit Millionen von Jahren, da sie die meiste Zeit im Kälteschlaf verbringen. Sie können nur spekulieren, was inzwischen aus der Menschheit geworden ist. Und was für seltsame Dinge an Bord vorgehen, während sie schlafen ...

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Foto: Tachyon Publications

Carlton Mellick III: "Neverday"

Broschiert, 192 Seiten, Eraserhead Press 2018, Sprache: Englisch

Carl Mellick III mag der Übervater des Bizarro-Genres sein, doch unter all der Groteskerie war schon immer der SF-Autor erkennbar. In diesem Kleinod greift er das "Und täglich grüßt das Murmeltier"-Motiv auf und entwirft eine ganze Gesellschaft, die sich darauf eingestellt hat, dass jeder Tag wie der vorangegangene ist. Was bizarre Überraschungen freilich nicht ausschließt ...

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Foto: Eraserhead Press

Kim Stanley Robinson: "New York 2140"

Broschiert, 813 Seiten, € 17,50, Heyne 2018 (Original: "New York 2140", 2017)

Der mit seinem Wissen beeindruckende KSR vermag durchaus blutleere Zukunftspanoramen zu entwerfen. Dass "New York 2140" – eine Vision der klimagewandelten Welt – keines davon geworden ist, liegt an all den Figuren, die sein überflutetes New York mit Leben füllen ... auch wenn der Autor sie im Roman explizit als "drollig" schmäht, weil ihm selbst kluge Zitate offenbar wichtiger sind. Doch selbst wenn ein Lektor mit der Pumpgun hinter ihm stehen musste, um den Einbau von Sympathieträgern zu erzwingen – Hauptsache, er hat die Krot g'schluckt.

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Foto: Heyne

Josiah Bancroft: "Im Turm"

Broschiert, 448 Seiten, € 15,50, Heyne 2018 (Original: "Senlin Ascends", 2017)

Was uns die berüchtigten "Völkerromane" um Orks, Elfen & Co fast vergessen ließen, ruft Josiah Bancroft eindrucksvoll in Erinnerung: Fantasy ist mit Fantasie verwandt. Bancroft entwirft eine alternative Version unserer Welt, in der der Turm zu Babel immer noch steht, bis in den Himmel ragt und ein einzigartiges gesellschaftliches Sammelsurium beherbergt: einen (gar nicht so kleinen) Mikrokosmos, in dem sich der Held des Romans zu verlieren droht.

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Foto: Heyne

Karl Schroeder: "The Million"

Broschiert, 192 Seiten, Tor Books 2018, Sprache: Englisch

Fantastische SF Marke "Big Idea": Die Erde der Zukunft wird nur noch von einer Million Menschen dauerhaft bewohnt. Da ihnen alle Ressourcen des Planeten zur Verfügung stehen, leben sie in unvorstellbarem Luxus. Doch da ist noch die "andere Hälfte" der Weltbevölkerung: All die Milliarden, die in Stasis ruhen und nur einmal alle 30 Jahre geweckt werden, um die Erde einen Monat lang in Anspruch zu nehmen. Es sind im Grunde zwei verschiedene Zivilisationen – und ihr Verhältnis zueinander birgt nicht nur einige Brisanz, sondern auch ein uraltes Rätsel.

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Foto: Tor Books

Paolo Bacigalupi: "Tool"

Broschiert, 382 Seiten, € 10,30, Heyne 2018 (Original: "Tool of War", 2017)

Murderbot war nicht das einzige "Monster", das im vergangenen Jahr die Herzen der Leser erobert hat. Da ist auch noch Tool, ein genetisch veränderter Superkrieger aus einer nahen Zukunft, die an Ressourcen und Mitleid arm geworden ist. In diesem Roman findet Tool zu seinen Wurzeln zurück – und an diesen Wurzeln sitzt ein skrupelloser Konzern mit Weltherrschaftsgelüsten, gegen den unser widerwilliger Held nun mit Raketen und Reißzähnen zu Felde zieht.

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Foto: Heyne

Yoav Blum: "Als der Zufall sich verliebte"

Gebundene Ausgabe, 336 Seiten, € 20,60, Pendo 2018 (Original: "Metsarfe ha-mikrim", 2011)

Eine Geheimorganisation steuert mit übernatürlichen Kräften unser aller Leben. Was normalerweise eine verschwörungstheoretische Horrorvorstellung wäre, wendet Yoav Blum ins Positive: Seine "Zufallsstifter" wollen für ihre Zielpersonen nämlich nur das Beste – und sorgen so unter anderem für eine wunderbar ausgeklügelte Liebesgeschichte. Einfach schön!

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Foto: Pendo

Stephen Baxter: "Xeelee: Redemption"

Broschiert oder gebundene Ausgabe, 432 Seiten, Gollancz 2018, Sprache: Englisch

Im möglicherweise letzten Xeelee-Roman für immer bringt Stephen Baxter die Geschichte vom universalen Konflikt zwischen der Menschheit und der mysteriösen Superzivilisation der Xeelee zu einem versöhnlichen Ende. Dafür feuert er noch einmal aus allen Rohren – auch aus fremden, wenn man die unverkennbaren Anklänge an Larry Nivens "Ringwelt" in Betracht zieht ... Nur ist bei Baxter natürlich alles wie gehabt noch größer! älter! kosmischer! als bei jedem anderen Autor.

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Foto: Gollancz

Richard Morgan: "Thin Air"

Gebundene Ausgabe, 544 Seiten, Gollancz 2018, Sprache: Englisch

Der Star der 2000er Jahre hat derzeit einen Lauf: Während auf Netflix die Serie "Altered Carbon" angelaufen ist, die auf Richard Morgans "Takeshi Kovacs"-Erzählungen beruht, hat der britische Autor zeitgleich einen neuen SF-Roman herausgebracht. Der hat zwar ein anderes Setting, ist in Ton und Machart Morgans früheren Werken aber sehr ähnlich. Eine volle Ladung für Fans actionreicher Wirtschaftskrimis mit SF-Hintergrund.

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Foto: Gollancz

Angélica Gorodischer: "Kalpa Imperial"

Klappenbroschur, 302 Seiten, € 17,40, Golkonda 2018 (Original: "Kalpa Imperial", 1983)

Ein monomanisches Erzählwerk aus Argentinien, das schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat, aber die Definition von Zeitlosigkeit ist: Angélica Gorodischer entwirft in einer Reihe scheinbar zusammenhangloser Episoden die Historie eines fantasyesken Imperiums und reflektiert dabei über den Zusammenhang zwischen Geschichten erzählen und Geschichte schreiben.

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Foto: Golkonda

James Tiptree Jr.: "Helligkeit fällt vom Himmel"

Gebundene Ausgabe, 511 Seiten, € 24,90, Septime 2018 (Original: "Brightness Falls from the Air", 1985)

Ein bunte kleine Auswahl der galaktischen Gesellschaft findet sich auf einem abgelegenen Planeten ein, um das Vorüberziehen einer Nova-Front zu beobachten. Es wird sich zeigen, dass alle ein brisantes Geheimnis aus der Vergangenheit bergen: die Touristen, der Planet und sogar der als Nova explodierte Stern. Ein würdiger Abschluss der Gesamtausgabe von James Tiptree Jr. – und sein/ihr einziges Werk, das bis dahin noch nie auf Deutsch erschienen ist!

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Foto: Septime

Robert Jackson Bennett: "Die Stadt der träumenden Kinder"

Broschiert, 654 Seiten, € 11,40, Bastei Lübbe 2018 (Original: "City of Miracles", 2017)

Eine beeindruckende Fantasy-Trilogie ist nun leider zu Ende gegangen. Mit Detailreichtum und Verweisen auf Culture-Clash-Konflikte unserer Gegenwart hat Robert Jackson Bennett eine annähernd moderne Welt entworfen, in der Aufklärung und Technologie längst über Magie und Götterglauben triumphiert zu haben scheinen. Doch in dieser Welt haben wirklich Götter gelebt – und wann immer sich ihr verdrängtes Erbe wieder regt, wird's apokalyptisch.

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Foto: Bastei Lübbe

Tobi Hirotaka: "The Thousand Year Beach"

Broschiert, 336 Seiten, Viz LLC/Haikasoru 2018 (Japanische Originalveröffentlichung 2002), Sprache: Englisch

"Westworld" meets "Otherland": In einer virtuellen Urlaubswelt fallen eines Tages Maschinen ein, die diese Welt aufzufressen beginnen – und deren empfindungsfähige Bewohner gleich mit. Was also schon gruselig beginnt, wird mit der Zeit immer verstörender, wenn wir erfahren, dass die "Realm of Summer" nie so ein paradiesischer Ort war, wie es anfangs den Anschein hatte. Und wie sich das Ganze dann weiter entwickelt ... nun, man muss es gelesen haben, um es – vielleicht – zu verstehen.

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foto: viz llc/haikasoru

Alastair Reynolds: "Rache"

Broschiert, 557 Seiten, € 11,30, Heyne 2018 (Original: "Revenger", 2016)

SF-Fixstern Alastair Reynolds hat sich wieder mal was Neues einfallen lassen. Als Hintergrund für ein wildes Weltraumpiratenabenteuer entwirft er eine sehr ferne Zukunft, die mitunter verblüffende Züge der Vergangenheit trägt. In ungezählten Zyklen hat sich die menschliche Zivilisation immer wieder in den Weltraum ausgebreitet, ist kollabiert und dann wieder in neuer Form expandiert – der Stand der Technologie ist also eher vom Zufall des Zeitpunkts als von Fortschritt geprägt. Die Fortsetzung "Shadow Captain" ist Anfang des Jahres auf Englisch erschienen.

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Foto: Heyne

Cixin Liu: "Der dunkle Wald"

Klappenbroschur, 815 Seiten, € 17,50, Heyne 2018 (Original: "Heian Senlin", 2008)

Wie Rundschau-Leser wissen, steht Cixin Liu hier nicht mehr ganz so hoch im Kurs. "Der dunkle Wald" ist allerdings sein bislang bestes auf Deutsch veröffentlichtes Werk, besser auch als der gehypete Vorgängerband "Die drei Sonnen". Die seit langem angekündigte Invasion des Sonnensystems durch Außerirdische steuert hier auf ihren ersten Höhepunkt zu – das Ende vom Lied werden wir im Frühling mit dem Abschlussband "Jenseits der Zeit" hören.

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Foto: Heyne

Frank Schätzing: "Die Tyrannei des Schmetterlings"

Gebundene Ausgabe, 734 Seiten, € 26,80, Kiepenheuer & Witsch 2018

So spannend war Schätzing seit dem "Schwarm" nicht mehr. "Die Tyrannei des Schmetterlings" verknüpft die Angst vor einer technologischen Singularität durch Künstliche Intelligenz mit einem im Klappentext verschwiegenen zweiten Element (das ich auch hier wieder nicht verrate) und diversen anderen Überraschungen. Die Reaktionen auf den Roman fielen gemischt aus. Negative wurden aber recht oft mit einer Argumentationslinie begründet, die übersetzt in etwa hinausläuft auf: zu wenig Wissenschaftsthriller, zu sehr Science Fiction. Na, das sollte uns hier in Rundschaukreisen ja nicht stören!

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Foto: Kiepenheuer & Witsch

Tom Hillenbrand: "Hologrammatica"

Broschiert, 559 Seiten, € 12,40, KiWi 2018 &

Helmuth W. Mommers: "Anderzeiten"

Gebundene Ausgabe, 580 Seiten, € 24,60, p.machinery 2018

Und wer außer Frank Schätzing gerne etwas mehr SF aus deutschen Landen lesen möchte, für den gäbe es hier noch zwei Tipps: Tom Hillenbrands neuer Thriller führt uns in eine Zukunft, in der man keine Technologie braucht, um in die virtuelle Welt einzutauchen, sondern um sich aus ihr auszuklinken. Und Helmuth W. Mommers gibt uns das Feeling wieder, das die Science Fiction in ihrem Golden Age verbreitete. Jedenfalls was die Plots betrifft – die Technologie ist auf dem Stand der 2000er, aus denen die in "Anderzeiten" wiederveröffentlichten Kurzgeschichten stammen. Gestern, heute, morgen verschmelzen hier zu einem Ganzen.

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Fotos: KiWi und p.machinery

Neal Stephenson & Nicole Galland: "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O."

Gebundene Ausgabe, 864 Seiten, € 30,90, Goldmann 2018 (Original: "The Rise and Fall of D.O.D.O.", 2017)

Rundschau-Altspatzen werden vor Überraschung auftrillern, dass hier ein Buch mit einer solchen Seitenzahl besprochen wird. Ja, was soll ich sagen. Da kam der eine Zufallsfaktor ins Spiel, der immer alle sachlichen Erwägungen ausstechen kann: Ich hatte grade Lust drauf. Und hab es – so viel gleich als Fazit – auch nicht bereut. So liest es sich also, wenn Neal Stephenson mal der Schalk im Nacken sitzt. "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." ist ein höchst vergnügliches Epos der Inkompetenz – und damit sind nicht Stephenson und seine Koautorin Nicole Galland gemeint.

"Du führst ein angenehm unspektakuläres Leben. Mal sehen, ob wir das ändern können." Diese Worte bekommt die karrieremäßig frustrierte Linguistik-Dozentin Melisande Stokes von der Harvard University bei ihrer ersten Begegnung mit dem rätselhaften Tristan Lyons zu hören. Lyons, der einmal treffend mit den Worten charakterisiert wird, dass er die Energie eines Labrador-Retrievers habe, arbeitet für eine ungenannte Behörde. Und obwohl er nahezu alle Fragen Melisandes mit dem Kommentar "Verschlusssache" abblockt, lässt sie sich von ihm mitreißen und schließt sich seinem Projekt an.

Da stimmt doch was nicht ...

Bereits in den allerersten Kapiteln kommen zwei Verdachtsmomente auf. Eines davon, das zunächst auch von Melisande geteilt wird: Tristan könnte einfach nur ein Spinner sein. Diese Befürchtung kann Melisande aber ablegen, als das Projekt in Gang kommt und der vermeintlich solo agierende Tristan ganze Scharen von Mitarbeitern aufmarschieren lässt. Die Organisation D.O.D.O. existiert also tatsächlich – auch wenn es lange dauert, bis Melisande endlich darauf kommt, dass das Akronym für "Department of Diachronic Operations" steht und sich um eine sehr eigenwillige Form von Zeitreisen dreht.

Der zweite Verdacht wird um einiges unauffälliger, aber ebenfalls von Anfang an genährt. Die historischen Dokumente, die angeblich belegen, dass Magie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich funktioniert haben soll, kommen einem ebenso subtil seltsam vor wie Tristans und Melisandes Reaktion darauf. Das und die mehrmalige Erwähnung des Kaufmannsgeschlechts der Fugger lassen einen Verdacht keimen, der sich bestätigen wird, wenn erstmals ein weltbekanntes Gebäude namens "Trapezoid" erwähnt wird ...

Zeitreisen einmal anders

Neal Stephenson und Nicole Galland, die schon für das Online-Werk "The Mongoliad" zusammengearbeitet haben, präsentieren uns eine Variante von Zeitreisen, die man in der Form tatsächlich noch nicht gelesen hat. US-Autorin Kage Baker ließ in ihren "Company"-Romanen Zeitreisende wertvolle Gegenstände aus der Vergangenheit bergen, indem sie diese an einem sicheren Ort verwahrten, bis sie Jahrhunderte später entnommen werden konnten. Das versucht D.O.D.O. zwecks Eigenfinanzierung auch, doch ist es hier wesentlich schwieriger: Eine Art Quantenunschärfe der Zeit macht es erforderlich, dass man eine solche Mission mehrfach in verschiedenen Zeitsträngen durchführen muss, bis gewissermaßen die Zeit selbst den Vorgang als Tatsache akzeptiert. Und wenn in nur einem Strang etwas schiefläuft, muss man wieder von vorne anfangen, wie uns eine unfassbar umständliche Bergungsaktion in den ersten Kapiteln vor Augen führt.

Kein Wunder, dass Hexen Zeitreisen stets für die ineffektivste Anwendung von Magie hielten. – Richtig, Hexen: Ihre magische Begabung bestand bzw. besteht genau genommen darin, dass sie über ihren Zeitstrang hinausblicken und sogar wechseln können. Ein magischer Effekt bedeutet also nichts anderes, als dass sie eine Realität gegen die gewünschte andere austauschen. D.O.D.O. versucht nun ein Netzwerk mit all den Hexen der Vergangenheit aufzubauen, eine intertemporale Verkehrsverbindung. Als Knotenpunkt in der Gegenwart dient die vom schrulligen Professor Frank Oda entwickelte Ontische Dekohärenz-Kavität (ODEK): Sie ist gewissermaßen die Box, in die Schrödingers Katze gesteckt wird, und in der magielosen Gegenwart der einzige Ort auf Erden, an dem das "Zaubern" funktioniert.

Die nötige Zeitreiseinfrastruktur ist damit eingerichtet, doch wir ahnen schon, dass das Herumflicken an den Zeitsträngen noch zu einigen Verwicklungen führen wird. "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." lässt an Erzählungen wie Wolfgang Jeschkes "Der letzte Tag der Schöpfung", R. A. Laffertys "So frustrieren wir Karl den Großen" oder George R. R. Martins "Belagert" denken: allesamt Beispiele für Werke, in denen Eingriffe in die Zeit nach dem Trial-and-Error-Verfahren ungeahnte Folgen nach sich ziehen.

Bürokratische Evolution

Aufgebaut ist der mehrere Jahre überspannende Plot – siehe Titel – entlang der Entwicklung, die die Organisation D.O.D.O. nimmt. In der Anfangsphase legen Tristan, Melisande, Frank und Erszebet Karpathy (die letzte Hexe auf Erden und eine wahre Giftnudel) den Grundstein für das Projekt. Hier hat die Handlung die Turbulenz von Filmkomödien aus den 60er Jahren à la "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten". Doch D.O.D.O. wächst und wächst, und mit jedem Neuzugang erhöht sich das Potenzial für Fehlentwicklungen. Letztlich ist der Roman nichts anderes als eine Satire auf die Evolution von Unternehmen und Organisationen.

Nicht, dass die Handlung damit weniger witzig würde: Zum Schreien komisch sind etwa die Fehlinterpretationen von Fakten, die ein neues (und bald versterbendes) Mitglied des Leitungsteams in seinen Protokollen hinterlässt. Ein zweiter, ebenso unfähiger Mann wird Tristan und Melisande sogar als neuer Chef vor die Nase gesetzt. Unfähige Karrieristen wie Roger Blevins sind geradezu symbolhaft für den Umstand, dass D.O.D.O. langsam in die Phase systemischer Sklerose eintritt. Die Bürokratie schwillt an – inklusive Diversitätsbestimmungen und der Produktion immer neuer Akronyme für jeden Lercherlschas. Letztere nehmen derart überhand, dass sich die Organisationsleitung gezwungen fühlt, eine Richtlinie und einheitliches Leitbild für prototypische Sprachbildung herauszugeben, um unfreiwillig komisch klingenden Akronymen vorzubeugen. Richtig: abgekürzt RUELPS.

Vollendete Formgebung

Rein formal ist der Roman als postmoderne Collage aus verschiedensten Textformen angelegt: Briefen, E-Mails, Tagebucheinträgen, Gesprächsprotokollen und sogar einem skaldischen Heldenlied – jeweils in unterschiedlichem Layout präsentiert. Ein äußerst geschickter Schachzug des Autorenduos ist, dass wir das zunächst gar nicht so wahrnehmen. Gut, wir nehmen zu Beginn zur Kenntnis, dass Haupt-Erzählerin Melisande ihren Text als Rückblick verfasst, während sie im viktorianischen London festsitzt (und sich heftig vor den zeitgenössischen Gestänken ekelt). Einen solchen Rahmen hat man ja bald einmal in einem Roman, und er steht einer ganz konventionellen Erzählweise keineswegs entgegen.

So scheint es zunächst auch hier zu sein: Melisandes Schilderungen erwecken zu Beginn den Eindruck eines "ganz normalen" Romans und lassen uns damit sanft in die Handlung gleiten. Wenn sich später die Erzählung in einander immer schneller abwechselnde Dokumente auflöst, sitzen wir längst in der Falle, das Buch hält uns gefangen. In einem kurzen Metakommentar macht sich Stephenson (oder Galland) dann sogar über die klassische Erzählweise lustig. Dann nämlich, wenn Blevins Melisande für ihre ausführlichen Schilderungen rügt: "Sind allesamt zu lang, redaktionell zu stark bearbeitet und offen gesagt kitschig." Das ist gewissermaßen ein "Ätsch!" an die Adresse der Leser. Denn hätten die beiden Autoren das Buch von Anfang an erkennbar collagenhaft gestaltet, hätte sich der eine oder andere vielleicht abschrecken lassen. Und dann ein wirklich gutes Buch verpasst.

"Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." ist ein schönes Beispiel dafür, dass ein Werk inhaltlich wie formal komplex angelegt und dennoch mit größter Leichtigkeit lesbar sein kann. Ein Vergnügen, wie gesagt – und Fortsetzungen sind möglich.

Foto: Goldmann

Mary Robinette Kowal: "The Calculating Stars" & "The Fated Sky"

Broschiert, 431 bzw. 384 Seiten, Tor Books 2018, Sprache: Englisch

Mit ihrer "Lady Astronaut"-Duologie hat Mary Robinette Kowal einen Hymnus auf die Pionierzeit der Raumfahrt geschrieben, angesiedelt in einer Parallelwelt, in der alles ein bisschen schneller gehen muss: Ein Asteroid ist im Jahr 1952 ins Meer gestürzt und hat einen Treibhauseffekt in Gang gesetzt, der langfristig weite Teile der Erde unbewohnbar machen wird. Die International Aerospace Coalition muss also im Eilzugtempo ein Raumfahrtprogramm auf die Beine stellen und letztlich den Aufbau von Weltraumkolonien bewerkstelligen. Und das mit einer Technologie, über die wir heute schmunzeln würden – aber sie funktioniert.

Ein ganz besonderer Teil dieser Technologie ist der Umstand, dass hier immer noch von Hand gerechnet werden muss. "Computer" ist im Roman (wie ursprünglich auch in unserer Welt) eine Berufsbezeichnung – und in aller Regel ist es (ebenfalls wie einst in unserer Welt) ein Beruf, der von Frauen ausgeübt wird. Hauptfigur Elma York ist eine solche Mathematikerin, doch sie will auch Astronautin werden. Der erste Band "The Calculating Stars" schildert Elmas Kampf dafür, das Raumfahrtprogramm für Frauen und Angehörige nicht-weißer Minderheiten zu öffnen. Wer "The Calculating Stars" noch nicht gelesen hat, für den verläuft hier die ...

+++ SPOILERGRENZE +++

"The Fated Sky" setzt die Geschehnisse mit ein paar Jahren Abstand fort. Wir schreiben inzwischen das Jahr 1961, und die Menschheit hat auf dem Mond eine erste kleine Kolonie etabliert. Elma ist nun eine waschechte Astronautin – allerdings fühlt sie sich eher wie eine "glorifizierte Busfahrerin", weil sie nur die Shuttles zwischen Kolonie und Orbitalstation pilotieren darf. Die großen Raumschiffe steuern nach wie vor nur (weiße) Männer. Die Ungleichbehandlung bei der Aufgabenverteilung, die sich bis in die anstehende Marsmission hineinzieht, wird ein Dauerbrennerthema bleiben.

Und das ist nicht der einzige Konfliktstoff: Weil die Kosten des Weltraumprogramms politischen Gegenwind hervorrufen, braucht man eine publicityträchtige Galionsfigur, um den Flug zum Mars durchzubringen. Das kann nur die von den Medien gefeierte "Lady-Astronautin" Elma sein – dafür, dass sie nachträglich in die Crew gehievt wird, muss allerdings eine Kollegin und Freundin, die sich lange auf den Marsflug vorbereitet hatte, am Boden bleiben. Elmas Beliebtheit an Bord hält sich also zunächst in Grenzen. Und dazu kommt dann noch ein rassistischer Astronaut aus Südafrika, der die Apartheid gerne auch in Cockpit und Kantine weiterführen würde.

Realistisches Bild der Raumfahrt

Mary Robinette Kowals Doppelroman zeichnet ein sehr realistisches Bild der Raumfahrt. Zum einen legt die Autorin Wert auf die technischen Aspekte; sie hat sich von Astronauten und anderen Experten beraten lassen und – wenn's gerade passt – gelegentlich sogar alte Audio-Protokolle aus dem Apollo-Programm für ihre Geschichte adaptiert. ("On your additional separation maneuver, we recommend that you make a radial burn, point your plus x-axis toward Earth, and thrust minus X for .91 meters per second. Over.")

Auf der anderen Seite ist Kowal das Menschliche genauso wichtig. Obwohl Elma mit Nathaniel einen Ehemann hat, der ihre – von vielen als nicht "damenhaft" empfundenen – Ambitionen ohne Einschränkung unterstützt, ist es für eine Beziehung natürlich eine extreme Herausforderung, wenn sich einer der Partner mal eben für drei Jahre in den Weltraum verabschieden muss. Sowohl Physik und Technologie (also die Hard-SF-Elemente) als auch die menschliche Seite zu berücksichtigen, macht Kowal zu einer angenehm vollständigen Science-Fiction-Autorin – ähnlich etwa wie Linda Nagata ("The Last Good Man", "Red").

Und wenn wir schon beim Thema Komplettheit sind: Zur realistischen Darstellung gehört auch, dass für eine Weltraummission Budget und PR genauso wichtige Aspekte sind wie die technologische Machbarkeit. Und zu übler Letzt gibt's auch noch diverse Grauslichkeiten: Von einer beeindruckenden Kotz-Orgie nach einer Notlandung bis zum Putzen einer Weltraumtoilette bleibt hier keine Anrüchigkeit ausgespart. Als diesbezüglichen "Höhepunkt" serviert uns Kowal die schwebenden Relikte einer Durchfallepidemie an Bord ...

Zusammen sind sie stark

Besonders positiv fällt Kowals differenzierte Herangehensweise auf. Obwohl Sexismus und Rassismus maßgebliche Themen in "The Calculating Stars" und "The Fated Sky" sind, ließ sich die Autorin nicht zu einer simplifizierenden Einteilung in nur gute Aufgeklärte und nur schlechte Rückständige verleiten. Das Verhältnis zwischen Elma und Stetson Parker, dem Kommandanten der Marsmission, macht dies besonders deutlich: Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er nichts von Frauen in der Raumfahrt hält – lernt aber Respekt vor Elmas fachlicher Kompetenz. Umgekehrt genau das Gleiche: Elma ist seit Jahren von Stetsons Gehabe genervt, respektiert aber sein Können, ist mitunter positiv von ihm überrascht und weiß schlicht die längste Zeit nicht, wie sie mit ihm umgehen soll.

Wenn die beiden anfänglichen Kontrahenten langsam zu einem effektiven Team zusammenwachsen, wiederholt sich auf der zwischenmenschlichen Ebene das, was der Roman auch auf der globalen vermittelt: Nur durch Zusammenarbeit und Verständnis für den anderen kann es eine Zukunft geben. Um diese positive Botschaft zu transportieren, hat Kowal in der Begeisterung für den Weltraum das perfekte Vehikel gefunden. Die beiden Romane reißen mit ihrer Aufbruchsstimmung einfach mit, vom ersten Satz – Do you remember where you were when the "Friendship" probe reached Mars? – bis zu dessen Gegenstück am Ende.

Gesamtbewertung: Normalerweise teile ich meinen Lesevorrat streng strategisch ein. E-Books für Tage, an denen ich viel unterwegs bin – und buchstäblich nicht trag-bare Papierausgaben wie den neuen Wälzer von Neal Stephenson für Tage, an denen ich bequem daheim herumknotzen kann. Kowal hat meinen Masterplan total verhunzt: Ich war zuhause, aber nachdem ich unvorsichtigerweise einen Blick in die E-Version von "The Fated Sky" geworfen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. Danach brauchten Neal Stephenson und ich eine Woche lang immer zwei Plätze in der U-Bahn.

Fotos: Tor Books

Hannu Rajaniemi: "Summerland"

Gebundene Ausgabe, 304 Seiten, Tor Books 2018, Sprache: Englisch

Mit seiner "Jean le Flambeur"-Trilogie ("Quantum", "Fraktal" und der leider nie ins Deutsche übersetzte Abschlussband "The Causal Angel") hat sich der finnische Autor Hannu Rajaniemi einen Ruf wie Donnerhall erworben: Selten kam Hard SF so wirbelsturmartig über uns Leser wie bei Rajaniemi. Er wäre damit wohl der Letzte, von dem man sich eine ... Geistergeschichte erwartet hätte. Was "Summerland" in gewisser Weise und mit größter Zuspitzung formuliert ja eigentlich ist. Und doch ist sich der Quantenmagier unter den SF-Autoren letztlich erstaunlich treu geblieben.

Die Zusatzdimension

Versuchen wir uns die Romanwelt in ihren Grundlagen einmal vorzustellen: Rajaniemi entwirft eine alternative Version der Erde, in der der Tod nur noch der Übergang in die dank "moderner" Technologie erschlossene Sphäre der Toten ist, das titelgebende Summerland. Eingelagert in die vierte Dimension und damit uns umgebend, gibt es dort zwei zusätzliche Richtungen: "hinauf" zur Welt der Lebenden (ana) und "hinunter" ins unbekannte Dunkel (kata), in dem die Seelen versinken, wenn auch ihr Leben nach dem Tod endet und sie verblassen.

Genau genommen ist Summerland eine Stadt, die jedoch nicht von Menschen, sondern von einer unbekannten Vorläuferzivilisation errichtet wurde. Man hat sie sich lediglich angeeignet, nachdem der technologische Spiritismus die Erschließung des Jenseits ermöglicht hatte. Wie es dort so aussieht, lässt eine Passage erahnen, die einen Gang durch ein Gebäude von der Form eines Hyperwürfels oder Tesserakts beschreibt: The building's aethertecture was constantly changed to eliminate any fixed points that could be used for unauthorised thought-travel, resulting in a warren of corridors, passageways and mezzanines, hypermirrors and blind corners. It was like wandering through an optical illusion. – Yep, eindeutig ein Werk von Rajaniemi.

Soirée der Spione

Bereits in der "Jean le Flambeur"-Reihe fiel auf, dass sich das Personal der Romane – ganz im Kontrast zum physikverliebten Setting – aus Figuren zusammensetzte, wie sie für Krimis und Agententhriller typisch sind. Das wiederholt sich hier, "Summerland" ist gewissermaßen eine "Soirée der Spione", wie es an einer Stelle so schön heißt, und könnte Fans der "Laundry Files" von Charles Stross gut gefallen. Wir tauchen hier tief in die Welt der Geheimdienste ein, die zeitliche Einordnung (wir schreiben das Jahr 1938) verleiht dem Ganzen dann noch einen gewissen Retro-Glamour. Sehr schön etwa die Idee vom ectophone, mit dem man im Jenseits anrufen kann: So etwas gibt's auch in Jeffrey Thomas' "Punktown" – Rajaniemis ectophones freilich bestehen aus Bakelit.

Auf der weltpolitischen Bühne ist der Konflikt zwischen Großbritannien und der Sowjetunion am brisantesten. Beide mischen im Spanischen Bürgerkrieg mit, und neuerdings ist dort auch noch ein kaum einschätzbarer Dissident namens Stalin aufgetaucht ... Lenin hingegen wurde nach seinem Tod zur Gottheit umkonstruiert und lenkt noch immer die Geschicke der UdSSR: Als Gegenentwurf zum individualistischen – und dem Diesseits insgesamt recht ähnlichen – westlichen Jenseits ist das östliche eine kollektive Intelligenz, in der alle braven Sowjetseelen aufgehen. Und wie in unserer Welt der Sozialismus, so übt auch diese kollektive Daseinsform großen Reiz auf manche Bürger des Westens aus.

Die Hauptfiguren

Rachel White arbeitet seit vielen Jahren für den britischen Secret Intelligence Service. Aktuell macht sie es sich zur Aufgabe, einen Maulwurf auffliegen zu lassen. Wer das ist, wissen wir übrigens schon von Anfang an: Peter Bloom (nebenbei bemerkt ein bereits verstorbener Bewohner Summerlands), der aber nicht aus niederen Beweggründen, sondern aus Idealismus zum Doppelagenten geworden ist.

Bei beiden Hauptfiguren spielt die Psychologie eine große Rolle. Rachel leidet unter einer problembeladenen Ehe sowie unter der Diskriminierung, der sich Frauen in Geheimdienstkreisen ausgesetzt sehen. Jeden Tag hat sie Bemerkungen wie "Remarkable, really, given your natural limitations" zu schlucken, von Benachteiligungen auf dem Karriereweg ganz zu schweigen. Auch Peter wurde von all den Ungerechtigkeiten geprägt, die ihm bereits widerfahren sind, und nimmt im Roman daher keinesfalls eine Schurkenrolle ein. Der Fokus aufs Persönliche sowie auf den Agentenalltag zwischen Bürokratie, Machtspielen und taktischem Haushalten mit Informationen rückt "Summerland" insgesamt viel näher an "Dame, König, As, Spion" als an "James Bond", wenn man es an den Action-Anteilen populärer Agentenformate messen will.

Alternative physikalische Fakten

... nur eben "Dame, König, As, Spion" in einer Welt von ectophones, aetherguns, spirit armours, ectotanks und vieler anderer Dinge, die auf der heute fast schon vergessenen Idee vom "Ektoplasma" (einer von Medien abgesonderten übernatürlichen Substanz) beruhen. Vor einem Jahrhundert war das noch das ganz große Ding, als der Spiritismus in voller Blüte stand und man sich noch nicht sicher war, ob dieser nicht vielleicht doch ein wissenschaftliches Fundament hat. Weswegen "Summerland" letztlich doch nicht so weit von Hard SF entfernt ist, wie es zunächst den Anschein hat: Rajaniemi hält sich streng an die Naturgesetze – er hat für seinen Roman bloß eine Welt mit anderen Gesetzen geschaffen. Vergleichbares haben auch schon Greg Egan mit seiner "Orthogonal"-Reihe oder Ted Chiang (etwa in der Golem-Geschichte "Zweiundsiebzig Buchstaben" oder in "Ausatmung") getan; beides Autoren, die ebenfalls stark der Wissenschaft verbunden sind.

Manchmal gewinnt man beim Lesen allerdings auch den Eindruck, dass all die spiritistischen Termini kaum mehr als ein Fall von alternativem Wording sind. Wenn die Bewohner Summerlands die feststoffliche Materie unserer Welt als "verknotete Wirbel im Aether" wahrnehmen, dann klingt da durchaus ein bisschen die Quantentheorie an, die die "Flambeur"-Romane prägte. Und viele "jenseitige" Phänomene könnte man auch problemlos in einen Cyberspace-Kontext übertragen: Summerland wäre dann eine virtuelle Welt, das Ticket, das man memorieren muss, um sicher ins Jenseits zu gelangen, wäre ein Zugangscode – und Gottvater Lenin eine Künstliche Intelligenz. Rajaniemi hat seine Welt so angelegt, dass sie jeder auf die Weise interpretieren kann, die ihm am besten gefällt.

Fortsetzung?

Zu erwähnen wäre noch, dass im Roman eine apokalyptische Bedrohung anklingt, die noch aus der vormenschlichen Vergangenheit von Summerland herrührt. Ausgearbeitet wird diese allerdings nicht. Noch nicht zumindest: Vielleicht darf man das als Indiz dafür werten, dass Rajaniemi weitere Romane zu dieser faszinierenden Welt folgen lassen wird. Letzte Bemerkung: "Summerland" ist auch auf Englisch um einiges leichter zu lesen als Rajaniemis vorherige Quantenfestspiele. Also keine Angst!

Foto: Tor Books

Jasper Fforde: "Eiswelt"

Klappenbroschur, 654 Seiten, € 15,50, Heyne 2018 (Original: "Early Riser", 2018)

Jemand ist zu einem Zeitpunkt wach, an dem er eigentlich schlafen sollte, und muss plötzlich feststellen, dass in seiner Welt ungeahnte Dinge vor sich gehen ... Jeder kennt das Motiv, das vor allem in der Horror-Literatur verbreitet ist – aber nicht nur. Meine Lieblingsversion des Themas ist noch aus Kindheitszeiten die Weihnachtsgeschichte der Mumins: Versehentlich aus dem üblichen Winterschlaf gerissen, erleben die Mumins zum ersten Mal die Adventzeit und schließen aus dem ständig gehörten "Weihnachten kommt!" und der allgemeinen Hektik messerscharf, dass es sich bei Weihnachten wohl um eine Art gefährlichen Dämon handeln muss. ("Wofür ist der Schinken?" "Na, für Weihnachten." "Ach, es frisst auch?")

Eine fast bekannte Welt

Auch der britische Autor Jasper Fforde, bekannt geworden mit "Der Fall Jane Eyre" bzw. der Thursday-Next-Reihe, geht das Thema von der humorvollen Seite an. Und wie schon in den Romanen um die Agentin Thursday E. Next hat er dafür eine Alternativwelt konstruiert. In dieser hält nach wie vor die Eiszeit die Welt im Griff, im Winter fallen die Temperaturen in Europa auf antarktische Werte. Unter diesen Bedingungen hat die Menschheit die Fähigkeit zum Winterschlaf entwickelt – plus eine weitere Anpassung, die eigentlich naheliegt, von Fforde aber erst so spät im Roman erwähnt wird, dass man dann doch überrascht ist. Wie man bei der Lektüre feststellen wird, handelt es sich bei solchen hinausgezögerten Eröffnungen um eine gezielte Taktik des Autors.

Ansonsten ähnelt die Romanwelt der unseren verblüffend – bis hin zu bekannten Bands und TV-Formaten. Da parallel dazu die eiszeitliche Megafauna weiterexistiert, dürfte "Eiswelt" der erste Roman der SF-Geschichte sein, in dem sowohl Showaddywaddy als auch Wollnashörner vorkommen. (Und man fragt sich, was davon die urzeitlicheren Ungetüme sind ...)

Gesunder Schlaf garantiert

16 Wochen lang dauert der Winterschlaf, für den sich die Menschen in sogenannte Dormitorien zurückziehen: riesige reaktorbetriebene Türme, die skurrilerweise übrigens dem Muminhaus gar nicht so unähnlich sehen, wie uns eine Illustration zu Romanbeginn zeigt. Solche Dormitorien sowie die Droge Morphenox haben dafür gesorgt, dass mittlerweile erfreulich viele Menschen die Auszehrung des Winterschlafs überleben. In früheren Jahrhunderten starben so katastrophal viele während des Winters, dass Vermehrung weiterhin ein politisches Leitziel ist – umgesetzt unter anderem vom Amt für Bevölkerungswachstum und rigorose Fruchtbarkeit (ABwurF) sowie Placentia und all den anderen Schwestern der Unaufhörlichen Austragung.

Morphenox hat allerdings eine Nebenwirkung: Ein kleiner Prozentsatz derer, die es genommen haben, erwacht als hirntote Nachtwandler – de facto Zombies. Da man in dieser Welt aber einen ausgesprochen nonchalanten Umgang mit dem Tod pflegt (was immer wieder für Komik sorgt), ist das kein Problem: Nachtwandler, die noch minimale mechanische Abläufe abspulen können wie eine hängengebliebene Schallplatte, werden "umgewidmet" und beispielsweise als Straßenkehrer eingesetzt. Den Rest schlachtet man für Ersatzorgane aus, schließlich friert den Bewohnern der Eiswelt immer wieder mal was ab.

Wächterrolle im Winterwahnsinn

Während der Großteil der Bevölkerung im Schlaf liegt, halten sogenannte Winterkonsuln die Ordnung aufrecht. Wie der junge Charlie Worthing aus Wales, der sich spontan für das gefährliche Amt beworben hat und zu seiner eigenen Überraschung auch tatsächlich genommen worden ist. Der Roman schildert Charlies Debütwinter, in dem er es nicht nur mit Nachtwandlern, technischen Pannen und dem sagenumwobenen Wintervolk zu tun bekommt, sondern auch in ein wirtschaftliches und politisches Ränkespiel verstrickt wird, das sich als größere Bedrohung erweist als alle anderen Faktoren zusammen. Nicht zuletzt macht unter Schläfern ein seltsamer viraler Traum die Runde, der aus ebenso bunt zusammengewürfelten Elementen zu bestehen scheint wie der Roman selbst.

Tatsächlich sind all diese Plot-Elemente aber kaum mehr als Vehikel, um Charlie von einer seltsamen Begegnung zur nächsten zu führen. Ob Kriminelle, berufsbedingt Wache oder aus gesundheitlichen Gründen schlaflos Gebliebene: Der Winter wird von einer Vielzahl schrulliger Typen bevölkert, die einem Film der Coen-Brüder alle Ehre machen würden. Jede Stunde erlebte ich etwas Neues, und jedes Mal hätte ich auf diese Erfahrung verzichten können, bilanziert Charlie. Dem kann man sich als Leser freilich nicht anschließen, denn all die absurden Situationen, durch die man sich eher nach Night Vale als nach Wales versetzt fühlt, machen die Würze des Romans aus. Hier ein für die Handlung irrelevantes, für "Eiswelt" insgesamt aber typisches Beispiel:

"Ich habe sieben Zitronen und eine ganze Wassermelone entsaftet, mit einer neuen, effizienten und unglaublich riskanten Technik, die ich Hand-im-Mixer nenne. Wenn Sie etwas Hartes, Zähes in Ihrem Drink finden, ist das möglicherweise die Spitze meines kleinen Fingers." (...) Er streckte einen bandagierten Finger in die Höhe, als wollte er das Gesagte unterstreichen, und ich starrte das Getränk an. "Sie hätten den Finger doch heraussieben können", sagte ich. "Dann verliert man aber doch auch das ganze Fruchtfleisch."

Empfehlung!

"Eiswelt" wird in durchgehend munterem Ton erzählt, ist mit Wortneuschöpfungen und Pointen gespickt (sehr schön etwa der "Extremschlaf-Guru" Gaer Brills) und mit zahlreichen Fußnoten à la Terry Pratchett versehen. Nicht zu verachten auch die satirischen Elemente: Etwa wenn Dünnsein plötzlich als gesellschaftlich unerwünscht gilt (vor dem Winterschlaf muss man sich nämlich Fettreserven anfressen, um das Gesundheitssystem nicht zu belasten) oder wenn Politiker einmal mehr die Warnungen vor einem Klimawandel ignorieren. Was hier natürlich das weitere Vorrücken der Gletscher bedeutet.

Die größte Stärke des Romans liegt aber vielleicht in Ffordes Informationspolitik. Hier wird einem nicht gleich zu Beginn die ganze Exposition hingeschmissen, stattdessen belässt es der Autor bei vagen Andeutungen, die dann viel später in Pointen münden werden – oder in tatsächlich vollkommen überraschende Twists. Bei einigen Eröffnungen zu Nebenfiguren, die man zu diesem Zeitpunkt längst zu kennen glaubte, hat's mir jedenfalls die Schuhe ausgezogen. Das ist wirklich gut gemacht und passt zudem zu einem Roman, der in keine Schublade passt und damit als Ganzes eine freudige Überraschung bildet.

Foto: Heyne

Lawrence M. Schoen: "The Moons of Barsk"

Gebundene Ausgabe, 432 Seiten, Tor Books 2018, Sprache: Englisch

Vor beinahe schon 60 Jahren entwarf der monumentale Cordwainer Smith das Konzept der Underpeople: für Sklavenzwecke gezüchtete Tiere, die mittels Gentechnik Intelligenz, Sprachfähigkeit und aufrechten Gang erhalten hatten und auch körperlich ein Stück menschenähnlicher gemacht worden waren – inklusive der mittleren Größe. Genau solche Wesen bevölkern auch die fantastischen Barsk-Romane von Lawrence M. Schoen. 87 anthropomorphisierte Säugetierspezies haben sich hier in einer interstellaren Allianz weit über die Galaxis ausgebreitet. Die von ihnen besiedelten Welten könnte man sich also überspitzt gesagt wie Entenhausen vorstellen, doch sind wir vom Comichaften hier weit, weit entfernt.

Ein ganz eigene Welt

Der erste Barsk-Roman "The Elephants' Graveyard" (2015) vermittelte einem so wie nun auch der Nachfolger "The Moons of Barsk" das beglückende Gefühl, etwas zu lesen, das man noch nie gelesen hatte. Was natürlich nicht ausschließt, dass man jede Menge Bezüge herstellen kann. Cordwainer Smith wäre einer – "Dune" ein anderer, immerhin haben wir es auch hier mit Jahrhunderte überspannenden Plänen in Plänen und Prophezeiungen zu tun. Metaphysische Elemente gelten heute – im Grunde zu Recht – als Ausschlusskriterium dafür, etwas als Science Fiction zu klassifizieren. Wir wollen aber nicht vergessen, dass es einige bis heute sehr beliebte Franchises gibt, die trotz solcher Elemente als SF wahrgenommen werden: ob "Dune" oder "Darkover", von "Star Wars" ganz zu schweigen.

Im Barsk-Universum beruht das Übernatürliche auf den nefshons – subatomaren Geistespartikeln, die jedes intelligente Wesen produziert. Nach dessen Tod verstreuen sie sich, doch kann ein entsprechend begabter Speaker sie wieder zusammenrufen und den Toten virtuell rekonstruieren. Das klingt einerseits sehr nach der Macht in "Star Wars" – Everything was connected to everything else. Everywhere. Always. Forever. – ...

... andererseits entspringen daraus Anwendungen, die das Barsk-Universum an Cyberspace-Szenarien heranrücken. So ermöglichen die nefshons nicht nur die Herstellung und Vervielfältigung von Persönlichkeitsduplikaten (vergleichbar mit den Proxies in den Erzählungen von David Marusek), sondern auch die Einrichtung virtueller Räume und Langstreckenkommunikation. Das Gedächtnis von Individuen, aber auch von ganzen Spezies wird wie eine Datenbank betrachtet, und sogar Angriffe mit geistigen Analoga zu Computerviren werden wir erleben. Auf seine ganz eigene Weise hat das Barsk-Universum also sogar Bezüge zum Cyberpunk.

Zur Handlung

Im Vorgängerband haben wir Barsk kennengelernt, Exil und Heimat der Fant, der beiden Elefanten-Spezies. Sie gelten als die Parias der Galaxis – warum, wird in "The Elephants' Graveyard" geklärt; ebenso wie die Frage, was aus den Menschen geworden ist. Seit 800 Jahren leben die Rüsselträger hier isoliert. Minimalen Kontakt halten die übrigen Spezies nur deshalb zu den Fant, weil die Wälder von Barsk alle möglichen nützlichen Wirkstoffe produzieren, Stichwort "Pharming".

In "The Moons of Barsk" geht es um zwei sehr unterschiedliche Initiativen zur Beendigung der Isolation von Barsk, die einander gefährlich in die Quere kommen. Der Historiker Jorl, Hauptfigur des ersten Romans, möchte den offiziellen Weg beschreiten und Fant wieder auf den Welten ansiedeln, von denen sie einst vergrault wurden. Als Gegenspielerin erhält er erneut eine mit erbarmungsloser Konsequenz agierende Frau vor den Rüssel gesetzt: Klarce leitet eine Geheimorganisation, die seit Jahrhunderten versteckte Fant-Kolonien in anderen Sternsystemen aufbaut. Sie befürchtet, dass Jorl zu viel Aufmerksamkeit auf Barsk lenkt und damit ihre Pläne für das Überleben der Fant gefährdet.

Pizlo und die Konstruktion der Wirklichkeit

Zum Zünglein an der Waage wird Jorls Protegé, der liebenswerte junge Albino Pizlo, der ebenfalls schon im ersten Band vorkam und hier eine noch größere Rolle spielt. Als "genetischer Unfall" wird er von seinen Artgenossen komplett gemieden. Sein Außenseiterdasein ermöglicht es ihm dafür aber, die Geschehnisse genau zu beobachten. Er sieht die Zukunft als Geflecht von Möglichkeiten und beschließt, zum Helden zu werden, indem er sie zum Guten gestaltet.

Mit Pizlo muss den Regeln der Fant-Gesellschaft entsprechend so umgegangen werden, als würde er nicht existieren (was die Betroffenen mitunter zu tragikomischen Verrenkungen zwingt, wenn er etwas tut, das sich nicht ignorieren lässt). Und das führt uns auch schon zum eigentlichen Hauptmotiv der Barsk-Romane: der Konstruktion sozialer Realität(en). Wir bekommen es hier mit Geschichtsrevisionismus und Gedächtnislöschungen zu tun, mit zweckgebundener Legendenbildung und in Umlauf gebrachten Memen, mit Meta-Betrachtungen der Strukturen von (Helden-)Geschichten und Wahrheiten, die keiner wissen darf.

Eine Episode, die sowohl das Hauptmotiv als auch den humanistischen Grundton der Barsk-Romane auf den Punkt bringt, illustriert dies besonders gut. Da die Fant ja nicht die widerlichen Monster sind, als die die übrigen Spezies sie betrachten (sollen), bleibt es nicht aus, dass nähere Kontakte Klischees ins Wanken bringen. So kommen Pizlo und ein Besucher von außerhalb – ein Panda übrigens – einander "menschlich" näher. Letzterer wird durch Pizlos sympathisches Wesen in einen schweren Gewissenskonflikt gestürzt – also opfert sich Pizlo gewissermaßen: Er, der eigentlich keiner Fliege etwas zu Leide tun kann, gebärdet sich absichtlich abscheulich, damit der andere ihn wieder als Monster wahrnehmen und damit sein Weltbild und seine geistige Gesundheit bewahren kann.

Blick nach vorn

Nach dem überragenden Erstlingsroman war es nicht unbedingt zu erwarten, dass eine Fortsetzung da heranreichen könnte. Aber "The Moons of Barsk" ist wieder faszinierend von der ersten bis zur letzten Seite. Und, nebenbei bemerkt, spannend ohne einen einzigen Einsatz von körperlicher Gewalt. Da am Schluss diverse Entwicklungen noch nicht ganz zu Ende geführt sind und uns außerdem ein Überraschungselement erwartet, dürfen wir zudem davon ausgehen, dass es noch einen dritten Barsk-Roman geben wird, juhu!

Und damit schaltet das Josefson'sche Gehirn wie jedes Jahr für einen Monat alle SF-Gedanken ab, um sich fürs Festival Sanremo und die Berlinale zu leeren – die nächste Rundschau gibt es also wie immer erst im März. Die ersten 2019er Bücher liegen allerdings schon bereit. (Josefson, 26. 1. 2019)

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Weitere Titel
Überblick über sämtliche bisher rezensierten Bücher

Foto: St. Martin's Press