Wohl gefüllte Vorratskammer in Wien-Mariahilf: Mit den Ansätzen, Essigen und Elixieren wird gemixt und gekocht.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Eine Auswahl: Aromatischer Radicchio-Salat, Sterz mit dreierlei Karotten, gegrillte Spieße aus zuvor geschmortem Schweinebauch und Roten Rüben und Wiener Schnecken in Gulaschsaft.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Ob das neue Bruder eine Hipsterbude erster Ordnung ist? Hm, die Betreiber tragen Baseballkappen vom Designer, der Hauswein wird im Doppler ausgeschenkt (60 Euro / Flasche) und ist eine trüb-orange Brühe, die Dekoration besteht aus großen Glasballons mit selbstangesetzten oder fermentierten Essenzen und Elixieren aus selbstgesammelten Kräutern und Gewürzen. Der alerte Großstadtmensch erkennt: Viel hipper geht nicht.

Andererseits tragen die Gerichte und Getränke eher ungelenke Namen wie "Butterberge und Milchseen" oder "Gib mir Tiernamen", die ganz sicher nicht von einer schicken Kommunikationsagentur auf Linie getrimmt wurden. In der Küche stehen neben Steindorfer zwei Damen in respektablem Alter statt tätowierter Kochhelden. Und es gibt echtes Essen und große Geschmäcker statt mit Pinzette und Gelfläschchen herausgeputztes Insta-Food.

Okay, die Drinks sind zum Teil gar verspielt – wenn etwa ein Speckröllchen auf einem schaumigen Whisky-Drink mittels Bunsenbrenner geflämmt wird. Zum Teil schmecken sie aber auch spektakulär gut. Die Kombination aus selbstangesetzten Likören von Roter Rübe, Weißtanne und Himbeere und einer Idee Essig, hochscharfem Kren und fein geraspeltem Tannenzapfen, die Hubert Peter einem als "Rüttel am Watschenbaum" vorsetzt, ist so ein Wunderding, das die Geschmackspapillen geradezu obszön sexy zum Tanzen bringt.

Vegetarisches Beuschel

Am Herd schüttelt Steindorfer dafür die Wiener Küche auf virtuose Art durch. Eine Art vegetarisches Beuschel aus Pilzen macht dank exakter, kantiger Würzung und fein abgestimmter Konsistenzen durchaus so viel Freude wie die klassische Version. Forsch gegrillte Spieße aus zuvor geschmortem Schweinebauch und Roten Rüben geraten saftig und knusprig, der dazu servierte Salat aus kurz fermentiertem Kraut nimmt nur ganz dezente Anleihen bei koreanischem Kimchi – scharf!

Wiener Schnecken baden in kraftvollem, satt gekümmeltem Gulaschsaft, dazu gibt's saure Gurke und Semmel (Topware), damit auch ja alles aufgetunkt wird, wunderbar. Blonder Radicchio di Castelfranco wird mit Spinat, saurem Apfel und einem berückend aromatischen "Wald-Essig" aus allerhand Rinden und Kräuterchen zum leichten, animierenden Zwischengang. In Butter angeknusperten Sterz kombiniert Steindorfer mit dreierlei Karotten (gegrillt, fermentiert, eingelegt), dazu gibt es ein kräftig abgeschmecktes Karottenpüree und, als Reverenz vor der Kärntner Großmutter, einen Hauch Kaffeepulver obendrauf. "Weil sie zum Sterz immer Kaffee trinkt", sagt er. Soll sein.

Kopfzerbrechen

Eine echte Sensation ist dann geschmorter Kopf vom Waller, taufrisch von Gut Dornau geliefert, mit kraftvoll röstigen Koriander-Noten durchwebt und mit köstlich saurem, sehr butterigem Wurzelgemüse kombiniert. Schaut arg aus, die Backen sind kapitale Leckerbissen – Freunde von Gallerten und saftigstem Fleisch werden im Inneren des Schädels etliche Schätze heben. Für Anfänger gibt es das Gericht eh auch mit Forellenfilet.

Wer sich nicht als Totalverweigerer von Naturweinen geriert, dem wird der würzige Hauswein vom Golser Demeterwinzer Georg Schmelzer tadellos schmecken. Die anderen dürfen sich auf Obertrumer Märzen freuen, ein Bier von exemplarischer Schüttfreude. Dass es das jetzt in Wien vom Fass gibt, sollte auch in der Wolle gefärbten Antihipstern Grund genug sein, schleunigst zum Bruder zu pilgern. (Severin Corti, RONDO, 18.1.2019)

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