Längst sind Sonntagsreden fehl am Platz. Den Anfängen wehren genügt nicht mehr.

Illustration: Felix Grütsch

Illustration: Felix Grütsch

Ich muss gestehen, ich zögerte, als ich eingeladen wurde, hier zu sprechen. Stellen wir uns doch nicht dümmer, als wir sind. Die Wahl der Worte ist Teil des Kampfes. Die einstigen Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen zu ehren und sie nicht zu verraten heißt, nicht nur zu erzählen, wie es war, sondern vor allem auszusprechen, was ist, was um uns geschieht und wie uns angekündigt wird, wir würden noch unser blaues Wunder erleben. Widerstand ist nichts Vergangenes.

Wer einmal bloß Rosa Jochmann hörte, weiß, wie sie uns dazu aufrief, die Freiheit zu verteidigen. Lange nach der Befreiung aus Ravensbrück warnte sie vor den Scharfmachern und vor den Geschichtsleugnern der Gegenwart. Auch an Hans Landauer muss ich denken. Er hatte in Spanien gegen die Faschisten gekämpft und das Konzentrationslager Dachau überlebt. Hans arbeitete im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, über das der jetzige Innenminister Herbert Kickl 2016 sagte, es sei an der Spitze der Skala der unnötigen Vereine in Österreich. Wie soll ich vom Widerstand reden, ohne von jenem Minister zu sprechen, der uns vor wenigen Monaten mit der Aussage abspeisen wollte, Neonazi sei kein Straftatbestand? So sieht es aus, wenn Rechtsextreme damit betraut sind, Rechtsextreme zu überwachen. Wie soll ich Hans Landauer gerecht werden, ohne aufzuzeigen, wie das Innenministerium unter Kickl das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung eigens von einem rechtsrechten Polizeioffizier stürmen ließ, der dafür bekannt wurde, Postings von Antisemiten und Neonazis auf Facebook zu teilen?

Wovon ich rede, ist nichts Neues. Alle wissen Bescheid. Beschlagnahmt wurden auch Akten der Sachbearbeiterin, die über jenes rechtsextreme Milieu forscht, das die freiheitlichen Minister teils nur allzu gut kennen. Ging nicht der frühere Wehrsportkamerad des Vizekanzlers, Gottfried Küssel, erst vor wenigen Tagen frei? Aber Strache will uns glauben machen, von seinen Verbindungen zum Neonazismus gar nichts zu wissen. Er behauptet, Fotos, die ihn im Kreis von Rechtsextremen zeigen, seien gefälscht, bis das Gegenteil nachgewiesen wird. Die Bilder von ihm in jenem Lokal veröffentlichte er selbst im Netz, um dann zu leugnen, je dort gewesen zu sein. Zu Recht kann gesagt werden, der Vizekanzler dieser Republik hat bessere Beziehungen zu Rechtsextremen als zur Wahrheit.

Es ist nur wenige Monate her, da ich meinen Freund Rudi Gelbard, der Theresienstadt überlebt hatte, vor seinem Tod noch sah. Wenn er von finsteren Zeiten sprach, denen wir entgegengehen, dann meinte er nicht sein unmittelbar bevorstehendes Ableben, sondern den Aufstieg rassistischer Populisten bis hin zur Regierungsebene in Europa und in Österreich. Davon redeten wir, als wir uns zum letzten Mal voneinander verabschiedeten.

Neonazistische Wurzeln

Wären diese Überlebenden unter uns, sie würden nicht schweigen. Sie würden nicht davor zurückschrecken, zu sagen, was sie von den Beteuerungen des Vizekanzlers halten, die Vergangenheit der eigenen Partei aufarbeiten zu lassen, solange er seine eigene frühe Verwurzelung in der neonazistischen Szene leugnet.

Wie unglaubwürdig sind jene, die nur gegen den Hass auf Juden sind, wenn er von Muslimen kommt. Sie posten antisemitische Karikaturen in "Stürmer"-Manier. Sie dichten Menschen jüdischer Herkunft zur Gaudi ihres einschlägigen Publikums den Beinamen Kohn an. Sie heucheln zu Gedenkterminen Trauer um die Opfer und bejammern hernach die Niederlage der Wehrmacht. Sie grölen antisemitische Lieder und wollen es nicht so gemeint haben, wenn andere entsetzt zurückweichen. Dann schauen sie wieder ganz treuherzig drein.

Das nazistische Deutschland entstand nicht an einem Tag. Erst wurde der Hass auf die sogenannten Andersartigen geschürt und jedes Mitgefühl verhöhnt. Weist einer darauf hin, wie die Sprache der Hetze einst schon in den Abgrund führte, werfen ihm die Apologeten der Regierung vor, den Nationalsozialismus zu verniedlichen und die Rechtspopulisten zu Nazis zu stempeln. Beschreibt Michael Köhlmeier zu Recht, wie bereits in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts sich manche brüsteten, die Grenzen vor Flüchtlingen gesperrt zu haben, verdreht ihm der Kanzler das Wort im Mund. Allein der Anspruch, aus der Vergangenheit für die unmittelbare Gegenwart lernen zu wollen, gilt schon als unerhört. Aber kein Wort ist vom Kanzler zu hören, wenn der freiheitliche Landesrat Waldhäusl Asylwerber hinter Stacheldraht und von Hunden bewacht einquartieren lässt und meint, sie bräuchten eine "Sonderbehandlung". Kein Wort, kein Sterbenswörtchen angesichts dieses Mörderjargons war von der türkisen Bundespartei zu hören. Kein Vorwurf, hier würden die nazistischen Verbrechen beschönigt.

Geschichtsvergessenheit

Das Gedenken ist ein hoher Staatsakt, doch die Erinnerung wird zum politischen Skandal. Die Trauer um die Ermordeten wird zum heiligen Ritual der Geschichtsvergessenheit. Ich danke für Ihr Verständnis, doch der ermordeten Juden wird mittlerweile hierzulande gedacht, um gegen lebende Muslime umso besser hetzen zu können. Die Heimat von Lueger und Hitler, die den antisemitischen Populismus erfand, meint, der Judenhass sei bloß ein Importprodukt, eine Kolonialware unserer Zeit.

Nichts bleibt vom Kampf gegen den Nationalsozialismus, wenn er zum Slogan für jede Auseinandersetzung absinkt. Niemand wird hierzulande wegen eines Protests liquidiert. Derjenige, der heute seine Stimme erhebt, riskiert nicht sein Leben. Was für ein Glück habe ich, nicht beweisen zu müssen, ob ich den Mut gehabt hätte, damals ein Held gewesen zu sein. Wie leicht ist es doch heute, für die Menschenrechte einzutreten.

Aber wer nicht ansprechen will, was damals in die Vernichtung führte, soll auch von Auschwitz schweigen. Wer damals Verfolgten, ob Juden oder Roma, beistand, wurde ins Lager verschleppt oder gleich hingerichtet. Jene, die in unserer Gegenwart Ertrinkende aus dem Meer retten, werden nicht mehr umgebracht, sondern nur noch von unserem Kanzler diffamiert und mit Schleppern gleichgesetzt. In verschiedenen Ländern der Europäischen Union wird indes bereits gegen Hilfsorganisationen der Zivilgesellschaft mobil gemacht. Es ist der Triumphzug der Niedertracht: Das Recht auf unmittelbare Menschlichkeit wird im Namen des Gesetzes bestraft.

Ausweitung individueller Freiheiten

Der Innenminister wiederum, der die Gesetzeseinhaltung schützen sollte, meint mittlerweile gar, der Rechtsstaat habe sich der jeweiligen Regierungspolitik zu beugen. So stellt er sich über Gesetz und Verfassung. Aber was Kickl sagt, ist keineswegs nur ein Versprecher, sondern durchaus ein Versprechen, und es wird etwa in Polen bereits vollzogen.

Widerstand bedeutet, sich der Zumutung der Obrigkeit zu widersetzen und im Namen des höheren Rechts, auf dem die Gesetze beruhen, gegen die Ordnung und – wenn nötig – sogar gegen Gesetze zu verstoßen. Das ist kein Freibrief. Widerstand kann sich nicht der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel entziehen. Der Widerstand darf nicht größeres Übel herbeiführen als jenes, dem er sich entgegenstellt.

Der zivile Ungehorsam setzt auf die Ausweitung individueller Freiheiten. Indem etwa Menschen geholfen wird, die Opfer von Übergriffen der Exekutive sind. Es gibt tausende Beispiele zivilen Widerstands voller List und Lust. Kunst, die den Regelverstoß zum Teil der Inszenierung macht. Proteste gegen die Vasallen Putins innerhalb der Union.

Bevor es zu spät ist

Das Recht auf Widerstand ist nicht auf die Vergangenheit beschränkt. Wer behauptet, nur gegen Hitler sei Widerstand gestattet, hat die Freiheit bereits preisgegeben. Wir müssen Demokratie und Rechtsstaat verteidigen, ehe das Schlimmste geschehen ist. Wenn es bereits an der Macht ist, wird es zu spät sein.

Längst sind Sonntagsreden fehl am Platz. Den Anfängen wehren genügt nicht mehr. Was Widerstand heißt, kann jeder erklären, der seine Stimme erhebt, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität angegriffen werden. Was Widerstand heißt, lehren uns jene, die in den letzten Tagen in Budapest, doch auch in Bukarest und in Warschau auf die Straße gehen. Was Widerstand heißt, rufen uns jeden Donnerstag die Demonstranten in Wien, in Salzburg, in Linz, in Innsbruck oder hier in Graz zu. Was Widerstand heißt, lehren mich jene, die den Verfolgten zu Hilfe kommen. Von wegen NGO-Wahnsinn; von wegen Schlepper; von wegen Mafia ... Nein. Was Widerstand heißt, lerne ich von denen, die Menschen nicht ertrinken lassen, die andere auf hoher See retten, selbst dann, wenn es dem Gesetz widerspricht, ja, obgleich sie dabei nicht selten ihr eigenes Leben gefährden. Sie beweisen und sie machen Mut. Diese Menschen sind die Helden und die Heldinnen des heutigen Widerstands. (Doron Rabinovici, 25.1.2019)