Manchmal können Bilder mehr verschleiern, als sie über eine Sache verraten. Das mag am Betrachter liegen oder am Kommentator, an deren Absichten oder an deren Gefühlen. Zorn, Gleichgültigkeit, Angst, politisches Kalkül: Derlei kann ganze Diskurse beeinflussen.

Beim Aufregerthema Migration geschieht genau das, und zwar seit mindestens dreieinhalb Jahren. Mit unguten Gefühlen verfolgen heute Menschen in den USA die Wege der Migranten-Karawanen in Mittelamerika. Sie sehen die Bilder von Gruppen junger Männer, Frauen, Kinder, die mit schmalem Gepäck an Straßenrändern entlangwandern. Sie wollen in die Vereinigten Staaten, doch das Recht, diese zu betreten, haben sie nicht.

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Erst der Austritt aus extremer Armut macht Migrationsentscheidungen überhaupt möglich, während Elend die Betroffenen zum Verharren in der für sie inakzeptablen Situation zwingt.
Foto: Reuters / Alexandre Menaghini

2015 war es in Europa ähnlich. Ohne behördliche Genehmigung waren Syrer, Iraker, Afghanen unterwegs, die von mundschutzbewehrten Sicherheitskräften durch offene Grenzübergänge dirigiert wurden. Aufnahmen solcher Pulks, die auf sonst leeren, nur von Feldern begrenzten Straßen der Grenzgebiete umso surrealer wirkten, waren in allen Zeitungen abgedruckt und flimmerten auf allen Screens.

Das verursachte Unbehagen und tut es bis heute. Es schuf ein einseitiges Bild moderner Wanderungsbewegungen, das durch Aufnahmen von Bootsflüchtlingen, von Menschen in inadäquaten Auffanglagern zusätzlich verfestigt wurde. Sie, die illegaliserten Migranten, treten als typische Migranten in der öffentlichen Wahrnehmung auf. Oder auch die Flüchtlinge: Menschen, die um ihre Existenz laufen oder gar um ihr Leben. Aus diesem Missverständnis heraus lässt sich Ausländerfeindlichkeit schüren, wie in Europa inzwischen vielfach bewiesen worden ist.

Doch so, wie die Dinge erscheinen, sind sie vielfach nicht. Die faktischen Zusammenhänge widersprechen einer an den sichtbaren Phänomenen allein orientierten Herangehensweise. Das gilt auch für das Thema Migration: Es umfasst mehr, viel mehr. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) – einer zwischenstaatlichen Organisation im System der Vereinten Nationen – reicht das Migrationsspektrum von der Tagesreise und dem Tourismus über die Suche nach Arbeit oder Investitionsmöglichkeiten bis zur Reise unter Zwang – oder zu Reisen, um das nackte Leben zu retten.

Ob dabei internationale Grenzen überschritten werden oder nicht, ist egal. Auch der Aufenthaltsstatus des Reisenden, ob er oder sie freiwillig oder unfreiwillig unterwegs ist, was für Gründe die Wanderung hat und wie lange sie dauert, macht keinen Unterschied. So betrachtet ist Flucht eine Form der Migration – wenn auch wohl die dramatischste. Gleichzeitig ist sie bis dato die einzige Form, die im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsabkommen international verrechtlicht worden ist.

Eingeschränkte Bewegungsfreiheit

Bei IOM sieht man Migration als eine Konstante der menschlichen Existenz. Seit urgeschichtlichen Zeiten seien Menschen in Bewegung – und würden sich gleichzeitig dabei auch massiv einschränken. Tatsächlich ist migrantische Bewegungsfreiheit keineswegs selbstverständlich. Noch vor 150 Jahren mussten etwa auch in Mitteleuropa Menschen bei ihrer Heimatgemeinde eigens ansuchen, wenn sie diese verlassen wollten.

Heute ist Migration ein Massenphänomen. So verließen etwa im Jahr 2015 geschätzte 244 Millionen Menschen ihre Heimat und überschritten dabei eine internationale Grenze: Sie gelten als internationale Migranten. Weitere 740 Millionen Menschen wechselten 2015 ihren Aufenthaltsort innerhalb ihres Heimatstaates: Sie migrierten auf nationaler Ebene. Auf der Flucht wiederum waren 2017 rund 68,5 Millionen Menschen, 40 Millionen davon innerhalb eines einzelnen Staates.

Erhöhte Mobilitätsbereitschaft

Und die Mobilitätsbereitschaft nimmt weiter zu. In der ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts hat sich der Anteil der Migranten laut IOM weltweit erhöht, von 2,8 Prozent der globalen Bevölkerung im Jahr 2000 auf 3,3 Prozent im Jahr 2015. Wird diese Entwicklung weitergehen? Wird sie durch protektionistische Politik gestoppt werden. Wo wird die Welt in Sachen Migration 2030 stehen? Wo 2050?

In der Wiener IOM-Niederlassung hält man sich mit diesbezüglichen Prognosen zurück. Insbesondere Zahlen werden keine genannt. Zu vielfältig und komplex seien die Gründe für Migrationsentscheidungen – und je nachhaltiger der geplante Ortswechsel sei, nehme die Komplexität weiter zu, sagt Sprecherin Andrea Götzelmann-Rosado.

Tatsächlich erscheint die Motivation, eine Urlaubsreise anzutreten, im Vergleich zu – beispielsweise – einem Auswanderungsbeschluss denkbar einfach. Doch Migration findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie geht mit wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Veränderungen Hand in Hand.

Globale Veränderungen

Wie also schauen die diesbezüglich zu erwartenden Bedingungen in den kommenden Jahrzehnten auf dem Planeten aus? Welchen Einfluss werden die wichtigsten zu erwartenden globalen Veränderungen haben, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit mit der Bevölkerungs- und Einkommensentwicklung, dem Klimawandel und der Roboterisierung benennen kann?

Um mit dem Einfachsten zu beginnen: Migrationssteigernd wird das zu erwartende Bevölkerungswachstum wirken. Gibt es insgesamt mehr Menschen auf der Welt, wird die Zahl jener, die wandern, steigen, auch wenn der Anteil mobilitätsbereiter Personen gleich bleibt.

Denn hier ist sehr viel Luft nach oben: Anfang Jänner 2019 lebten 7.674.575.000 Menschen auf der Erde. Laut Statistik der Vereinten Nationen werden es 2030 rund 8,55 Milliarden und 2050 rund 9,7 Milliarden sein.

Pazifik-Staaten sind von den steigenden Meeresspiegeln besonders betroffen.
Foto: APA / AFP / Giff Johnson

Einen dynamisierenden Effekt dürften auch die globalen Erfolge in Sachen Armutsbekämpfung haben. Sie wurden über längere Zeit vor allem in China und Indien, inzwischen aber auch in einer Reihe afrikanischer Staaten wirksam. Der Zusammenhang ist anders, als angesichts der eingangs erwähnten Bilder von Menschen auf der Flucht vor ökonomischer Existenzbedrohung angenommen werden könnte: Erst der Austritt aus extremer Armut macht Migrationssentscheidungen überhaupt möglich, während Elend die Betroffenen zum Verharren in der für sie inakzeptablen Situation zwingt.

Extrem arm ist, wer laut Weltbank mit 1,90 Dollar täglich oder weniger auskommen muss. Der Anteil dieser Menschen sinkt weltweit – und soll es laut Weltbankprognosen in den kommenden Jahrzehnten weiter tun. Derzeit sind acht Prozent der globalen Bevölkerung extrem arm, 2030 sollen es nur mehr fünf Prozent sein. Dann dürften nicht 92, sondern 95 Prozent der Menschen eher Mittel zur Verfügung stehen, um Ortsveränderungen zu erwägen.

Roboter statt Migranten?

Eher migrationsdrosselnd könnte sich hingegen der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz auswirken. Der Zusammenhang erscheint klar: Übernehmen Maschinen immer mehr Arbeit, sinkt die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften, die man sonst vielfach aus dem Ausland holte.

Doch diese Vermutung ist mit Vorsicht zu genießen. Seriöse Prognosen, wie sich der Aufstieg von Mr Robot auf die Arbeitswelt konkret auswirken wird, trauen sich derzeit namhafte Experten nicht einmal für das kommende Jahrzehnt zu. Und in vielen sensiblen Bereichen – man nehme etwa die Pflege – ist auf der ganzen Welt trotz erster Hilfsroboter ohne willlige Arbeitskräfte aus jeweils billigeren Ländern kein Auskommen.

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) hat für seinen jüngsten Sachstandsbericht 2014 vier verschiedene Klimamodelle zur Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur errechnet. Beim Worst-Case-Szenario wird von einer Verdreifachung der Kohlendioxidemissionen bis 2100 ausgegangen, beim Best-Case-Szenario dagegen davon, dass sie um 2080 auf null fallen.

Ein potenziell immenser Einfluss auf die Migration geht von der Klimaerwärmung und anderen Umweltveränderungen aus. Hier stehen derzeit dramatische Entwicklungen im Fokus. Etwa jene in dem vom steigenden Meeresspiegel akut untergangsgefährdeten Inselstaat Kiribati im Pazifik. Kiribatis 33 Atolle, auf denen insgesamt rund 100.000 Menschen leben, liegen durchschnittlich nur zwei Meter über dem Meeresniveau. Zunehmend dringt Salzwasser in die Brunnen ein, einzelne Orte mussten wegen der Fluten bereits aufgegeben werden.

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) kommt zu dem Ergebnis, dass eine komplette Schmelze der Eisdecke über der Antarktis und Grönland zu einem Anstieg des Meeresspiegels von 58 Metern führen würde. Die Grafik zeigt eine Auswahl an Weltstädten, die dann überflutet wären, sowie die Lage von Wien und Apetlon, Österreichs tiefstem Punkt.

Die Regierung des Inselstaats hat auf Fidschi Land gekauft, um landwirtschaftliche Produkte anzubauen, die im Mutterstaat aufgrund zunehmenden Versalzens nicht mehr ausreichend wachsen. Auch sollen nach Fidschi, sobald es nötig ist, Menschen ausgesiedelt werden können. Denn internationale Regelungen, die garantieren würden, dass Klimaflüchtlinge andernorts aufgenommen werden müssen, gibt es nicht. Bis auf weiteres wird es sie auch nicht geben: Weltweit lehnen Staaten diesbezügliche Verhandlungen auf Uno-Ebene ab.

Das World Resources Institute (WRI) berücksichtigt für eine Projektion der Wasserknappheit im Jahr 2040 sowohl das Versiegen von Quellwasser durch die Erderwärmung als auch sozioökonomische Bevölkerungsprognosen. Die Wasserkrise könnte demnach bei ungebremstem Klimawandel im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika am stärksten ausfallen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen aus Klimagründen auswandern müssen, werde in den kommenden Jahrzehnten stark wachsen, heißt es in dem 2011 von der britischen Regierung veröffentlichten "Foresight Report", der eine Vielzahl von Studien der südlichen Kontinenten zusammenfasst. Gleichzeitig würden die Migrationschancen der Betroffenen aber schrumpfen: Wer in gefährdeten Gebieten lebt, werde infolge von Dürren, Fluten und anderen zerstörerischen Wetterereignissen weniger Mittel für diesbezügliche Schritte zur Verfügung haben. Die Rede ist von "trapped populations", von Menschen ohne Entkommensperspektive.

Insgesamt liegen die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die globale Migration aber im Dunkeln. Die IOM-Studie "Outlook on Migration, Environment and Climate Change" von 2014 setzt die Zahl künftiger Klima- und Umweltmigranten für 2050 zwischen 40 Millionen und einer Milliarde Menschen an. Wie man sieht: Die Spannbreite möglicher Entwicklungen ist enorm. (Irene Brickner, 8.2.2019)