"Hey, wie geht's dir?" Es könnte harmloser nicht beginnen, doch das ändert sich rasch: "Vor einer Stunde ist ein weiterer Mann gestorben. Ich werde dir das Alter und ein Foto von ihm schicken, wenn möglich. Es ist schwer, darüber zu schreiben, ich verliere die Hoffnung. Bitte teile der Welt mit, welche Probleme wir haben, bevor weitere sterben müssen."

Es ist eine der jüngsten Nachrichten, die Sally Hayden aus Libyen erhalten hat, und bei weitem nicht die erschreckendste. Seit 27. August 2018 hat die freie irische Journalistin als eine der wenigen Einblick in die berüchtigten Internierungslager, in denen Flüchtlinge und Migranten untergebracht sind. Berüchtigt deshalb, weil die Insassen dort unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt sind, wie von verschiedenen Seiten festgestellt wurde.

Die ersten Nachrichten, die Sally Hayden aus Libyen erhielt.

Am 18. Dezember etwa hat die Uno einen Bericht über die Situation von Migranten und Flüchtlingen in Libyen präsentiert. Sie seien einem "unvorstellbaren Horror" ausgesetzt, heißt es, bestehend aus Folter, willkürlichen Festsetzungen, Mord, Gruppenvergewaltigungen, Versklavung und Zwangsarbeit. Die Informationen stammen einerseits von Besuchen von elf Internierungslagern, andererseits von Aussagen ehemaliger Insassen, und zwar im Zeitraum zwischen Jänner 2017 und August 2018.
Mitte Jänner veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht, in dem sie ein "barbarisches System" in den Lagern konstatiert. Das Papier basiert auf Besuchen von vier Camps im Juli 2018.

Volle Unterstützung aus Wien

Gemeinsam haben beide Berichte die Kritik an europäischen Regierungen, die die libysche Küstenwache unterstützen, denn diese hält bereits seit geraumer Zeit Flüchtlinge und Migranten auf dem Weg übers Mittelmeer nach Europa auf. Ende Jänner erst erklärte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) angesichts des Wien-Besuchs des libyschen Premiers Fayez al-Serraj, dass die libysche Küstenwache "bei ihrer Arbeit auch weiterhin die volle Unterstützung Österreichs habe".

Begonnen wurde die Strategie Mitte 2017, als der damalige italienische Innenminister Marco Minniti libysche Milizen bezahlte, um die Menschen nicht außer Landes zu lassen. Offiziell wurde das nie bestätigt, die Info gilt aber unter Experten als gesichert. Vor allem diese Maßnahme, sagt der italienische Migrationsforscher Matteo Villa, sei der Grund für den drastischen Rückgang von Ankünften in Italien. Und nicht der Kampf gegen NGOs, wie es der aktuelle Innenminister Matteo Salvini suggeriert. "Die Politik der aktuellen Regierung hatte sicher auch Auswirkungen, aber nicht so große wie die Zusammenarbeit mit den Milizen", sagt Villa.

Rückgang der Ankünfte ab Mitte 2017

Zahlen des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) bestätigen diese Einschätzung. Mit Juli 2017 gingen die Ankünfte in Italien stark zurück und sind seitdem auf konstant niedrigem Niveau. Das hat zur Folge, dass im vergangenen Jahr lediglich 23.370 neue Flüchtlinge und Migranten gezählt wurden, 2017 waren es 119.369 und 2016 noch 181.436. Zwar wurde Mitte 2017 auch schon verstärkt gegen Schiffe von Hilfsorganisationen vorgegangen, etwa mit dem Vorschlag eines Verhaltenskodex, doch dass sich NGOs dann tatsächlich zurückzogen, geschah erst später.

Eines der seltenen Bilder aus den libyschen Lagern, aufgenommen im Dezember 2017 in der Einrichtung Tariq al-Matar in Libyen.
AFP/MAHMUD TURKIA

Die Statistiken belegen also, die Kooperation mit den Milizen ist effizient. Oder, um bei der Lesart der europäischen Regierungen zu bleiben, die Kooperation mit der Regierung Serrajs. Denn diese ist offiziell verantwortlich für die Küstenwache und die etwa 29 offiziellen Internierungslager. "Die Anzahl variiert von Woche zu Woche. Manche schließen kurzfristig, manche öffnen kurzfristig", sagt Vincent Cochetel, UNHCR-Sondergesandter für die zentrale Mittelmeerroute und Libyen. Tatsächlich geführt werden sie von lokalen Milizen, sagte er zum STANDARD. Diese sind auch in die Schlepperei involviert, vermutlich mit der Küstenwache verbandelt, machen mit all dem ein Milliardengeschäft und untergraben laut Cochetel den "libyschen Staat und verursachen Instabilität".

BBC konnte 2015 in einem Lager in Misrata filmen.
BBC News

Das alles ist seit Jahren bekannt: Der libysche Staat, sofern man überhaupt davon reden kann, ist schwach und gespalten, mehrere Regierungen und mehrere Parlamente kämpfen um Einfluss. Fayez al-Serraj wurde 2016 international als Premier einer nationalen Einheitsregierung anerkannt und gilt folglich im Ausland als erster Ansprechpartner, wenn es um die Eindämmung illegaler Migration geht. Doch seine Macht ist begrenzt, reicht kaum über die Hauptstadt Tripolis hinaus. Er ist auf den guten Willen von Milizen angewiesen.

Perfides Spiel mit den Insassen

Dass die weiter ihr eigenes Spiel spielen, um den Profit in die Höhe zu treiben, das schilderte Sally Hayden unlängst in einem Bericht für die "Time": Inhaftierte Flüchtlinge werden aus den Lagern an Schlepper verkauft, die die Familien der Geflüchteten in der Heimat erpressen. Drastische Fotos werden auf deren Facebook-Accounts hochgeladen, um Verwandte und Freunde zum Überweisen des Lösegelds zu bewegen.

Fotos, mit denen Verwandte der Häftlinge erpresst werden.

Hayden postete auf Twitter ein Beispielbild: Zu sehen ist ein Mann, der kopfüber von der Decke baumelt, eine Kette ist um seinen Hals geschlungen, ein Mann hält ihm eine Pistole an die Schläfe. Fließt kein Geld, wird der Betroffene getötet. Wird gezahlt, bekommt er erneut einen Platz im Schlauchboot. Stoppt ihn die Küstenwache und steckt ihn wieder in ein Lager, beginnt das perfide Spiel von neuem.

Schlüsselloch in die Lager

Um es also auf den Punkt zu bringen: Die Situation in den libyschen Lagern hat sich nicht verbessert, auch wenn europäische Regierungen genau das immer wieder eingefordert haben. Trotzdem wird die Kooperation mit Serraj und der Küstenwache fortgesetzt, die laut Schätzungen im Jahr 2018 zwischen 15.000 und 20.000 Menschen aufgehalten hat. Und so bleibt, mit Schrecken die Nachrichten zu lesen, die die Insassen an Sally Hayden schicken. Vieles davon veröffentlicht sie, die bereits für die "Washington Post", für CNN und den "Guardian" geschrieben hat, auf ihrem Twitter-Account, der damit wie eine Art Schlüsselloch in die Camps fungiert: Zu sehen sind verzweifelte Hilferufe, Videos und Bilder über die desaströsen Zustände in den Anstalten, Todesmeldungen.

Die schlimmste Nachricht, sagt Hayden dem STANDARD am Telefon, erhielt sie im Oktober: "Ein Somalier hat sich im Lager Triq al-Sikka selbst angezündet. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, dass er je wieder herauskommt." All diese Nachrichten führen zwangsläufig zu folgender Frage: Wie kann sie sicher sein, dass sie aus den Haftanstalten versandt werden? "Ich war zu Beginn selbst skeptisch, das klang alles so seltsam." Ein Flüchtling aus Tripolis hatte sie per Whatsapp angeschrieben, dessen Bruder hatte Haydens Nummer aus dem Internet. Danach sprach sich der Kontakt in den Lagern herum.

Ein weiteres Internierungslager in Zawiya, einer Stadt etwa 45 Kilometer westlich von Tripolis. Das Foto stammt ebenfalls vom Dezember 2017.
Foto: AFP/TAHA JAWASHI

Kontrolle mittels GPS-Daten

Sie ließ sich GPS-Daten schicken, Selfies und Fotos, die die Umgebung in den Lagern zeigten. Hayden rief bei UNHCR und anderen Hilfsorganisationen an, um sich Details bestätigen zu lassen. Dem war dann auch so, etwa bei dem Mann, der sich selbst anzündete. Denn UNHCR mit seinen rund 80 Mitarbeitern im Land hat zumindest teilweise Zutritt in die Lager, in denen sich derzeit etwa 5.000 Menschen befinden. "Es gibt kaum Essen und medizinische Versorgung. Aber einmal werden wir aus Sicherheitsgründen nicht reingelassen, ein anderes Mal lässt uns der Wächter einfach so nicht hinein", sagt Sondergesandter Cochetel. Und die jüngsten Kämpfe in Tripolis hätten die Arbeit weiter erschwert.

Sky News berichtete 2015 über Gewalt in den libyschen Lagern.
Sky News

Er erzählt von den Anstrengungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM), hohen Gebühren und "schrecklichen" bürokratischen Hürden zu trotzen, um Migranten aus den Lagern in die Heimat zurückzubringen. In einigen Ländern wie Eritrea oder Somalia ist das aber nicht möglich, weil Rückkehrern dort Gefahr droht.

UNHCR versucht Flüchtlinge in den Niger zu verfrachten, um dort zu prüfen, ob sie für Resettlement infrage kommen, also für Neuansiedlungen. "Hier gab es in den letzten Monaten keine Fortschritte", sagt Cochetel, unter anderem auch, weil Länder kaum Resettlement-Plätze anbieten.

Ein Häftling in Libyen antwortet mit Bob Marley.

Ein bisschen Hoffnung mit Bob Marley

Kleine Hoffnungsschimmer gibt es trotzdem: Vergangene Woche kündigte die kanadische Regierung an, in den nächsten zwei Jahren 600 Flüchtlinge aus libyschen Lagern aufzunehmen, zusätzlich zu den bisherigen 150. Und liest man sich durch Haydens Twitter-Account, so findet sich sehr selten, aber doch auch Positives. Etwa jener Häftling, der Hayden mit einer Liedzeile von Bob Marley antwortet: "Don't worry about a thing Cuz (sic!) every little thing is gonna be all right." (Kim Son Hoang, 13.2.2019)