Andreas Khol sieht die bürgerlichen Werte und das Vertrauen in die Politik wiedererstarken, Alfred J. Noll hingegen ubiquitäre politische Leere.

Foto: Robert Newald

Intelligenzler erkennt man daran, dass sie rechtzeitig das Spielfeld verlassen, wenn eine Niederlage droht. Sieglinde Rosenbergers politischem Attest, das Republiksschiff werde gerade personell und konzeptiv nach rechts bugsiert, lässt sich – so man Augen hat zu sehen – kaum etwas entgegenhalten. Will man weiterhin mitspielen, muss man das Terrain wechseln – und so bramarbasiert Andreas Khol vom Aufstieg konservativer Werte und vom steigenden Europagefühl. Mit kostengünstig beigeschafften Zitaten von Herwig Hösele und Rudi Burger meint er, das politische Problem vom Tisch gefegt zu haben: Wer gegen die ÖVP seine Stimme erhebe, sei von der Krankheit des Alarmismus infiziert. Wo Rosenberger mit politischen Tatsachen hantiert, schlägt Khol ihr seinen medizinischen Befund um die Ohren.

Nun gut. Ich gehöre nicht zu denen, die bei jedem politischen Unsinn der FPÖVP das Aufkommen des Faschismus wittern. Vielmehr meine ich ganz konservativ, dass die von unseren Medien fröhlich zur fortgesetzten politisch-prostitutiven Schaustellerei ermunterte Regierung ein Elend für unser Land ist.

Staatskonzept der FPÖVP

Um nicht bei Herrn Khol reflexartig den Verdacht zu erwecken, hier töne es aus dem Munde eines der "roten Gfrießer", nehmen wir als Kriterienspender einmal den Asylanten Thomas Hobbes (1588–1679), der in seinem Pariser Exil schrieb: Der Staat erfülle seine Pflicht dann, "wenn er nach Möglichkeit dafür gesorgt hat, dass durch heilsame Einrichtungen so viele wie möglich sich wohlbefinde, und dass es niemandem schlecht gehe, ausgenommen durch seine eigene Schuld oder durch Zufall". Und unter dem Wohl verstand er nicht "bloß die dürftige Erhaltung des Lebens irgendwie, sondern ein möglichst glückliches Leben". Deshalb postulierte er, dass "die Bürger mit allen Gütern nicht bloß zum Leben, sondern auch zum Genusse reichlich versehen werden". Wer als Regierender seine Ziele niedriger hängt, der kann mir als Staatsbürger gestohlen bleiben.

Unschwer ist zu sehen, wie die FPÖVP auf allen damit in den Horizont kommenden Feldern politischer Tätigkeit von diesem konservativen Konzept eines "guten Staates" nichts wissen will. Die jegliches individuelle "Wohlbefinden" von Grund auf zerstörenden Prozesse der Monetarisierung aller unserer Werte, der Kommerzialisierung aller unserer Lebensbereiche und der Prekarisierung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen werden von den Regierenden nicht einmal bemerkt, geschweige dass sie es in Angriff nähmen, diese sozialen Tendenzen vor dem Hintergrund unserer insgesamt immer bedrohlicheren "imperialen Lebensweise" (Brand/Wissen) politisch-konzeptuell zu erfassen.

Umfrageaffine Selbstdarstellung

Die FPÖVP hat ein Staatskonzept, das sich gerade durch die Abstandnahme von allen Konzepten eines "guten Staates" auszeichnet, weil sie in ihrer aufs tagespolitische Zustimmungsquantum gerichteten Verblendung so etwas wie eine politische Vorstellung nur noch ex negativo hat: Der Staat ist der FPÖVP nichts anderes als eine Bühne der umfrageaffinen Selbstdarstellung, eine Bühne, bei der die unentwegte Rede von "den Ausländern" als semantische Trittleiter benutzt wird. Das multiple staatliche Organisationsversagen des Jahres 2015 wird seiner tatsächlichen Ursachen entkleidet und zum symbolisch-medialen Dauerbrenner gemacht, es wird ein ideologisch-traumatisierender Nebel produziert, um nicht die ubiquitäre politische Leere unserer Regierungsmannschaft erkennen zu lassen.

Dass in Österreich jeder Siebente von Armut betroffen oder armutsgefährdet ist, wen kümmert's? Dass Depression inzwischen vor koronaren Herzerkrankungen und Demenz und Alkoholkrankheit demnächst an erster Stelle steht, wen kümmert's? Dass jedes Jahr 400 Menschen im Straßenverkehr sterben, wen kümmert's? Dass die Wohnkosten in den letzten zehn Jahren um gut 36 Prozent gestiegen sind, wen kümmert's? Dass die Flächeninanspruchnahme (Bodenversiegelung) in Österreich täglich 12,9 Hektar beträgt und damit weit über dem Reduktionsziel für nachhaltige Entwicklung ist, wen kümmert's? Ärztemangel, bevorstehender Pflegekostenkollaps etc. etc. etc. – es ließen sich hunderte derartige Zumutungen, Versäumnisse und Gefährdungen auflisten – aber unsere Regierung beklatscht den Handshake von Kurz mit Trump und will endlich die "Präventivhaft" einführen.

Kein Parlament

Khol weiß um die Schwäche des österreichischen Parlamentarismus. "Unser Parlament spielt doch keine Rolle", flüsterte er mir vor ein paar Wochen ins Ohr. Und dennoch ist es die FPÖVP, die derzeit und bis auf weiteres jegliche Rede von "parlamentarischer Demokratie" zu einem lügnerischen Euphemismus geraten lässt; denn das Tun unserer (demokratisch legitimierten) Regierungsjunta führt mit dem Lassen unserer (demokratisch willfährigen) Regierungsparlamentarier dazu, dass den gouvernementalen Emanationen (fast) unbesehen das Mäntelchen der Gesetzlichkeit umgehängt wird – obwohl es sich doch materiell um nichts anderes handelt als um Regierungsdekrete. Es gibt kein Parlament – und der FPÖVP ist's recht so.

Mir geht es, ich leiste mir den Luxus, hier nicht um links oder rechts; dass ich Ersteres bevorzuge und Letzteres verabscheue, tut nichts zu Sache. Mir geht es darum zu sagen, dass diese Regierung unverantwortlich ist, weil sie sich ohne Plan den bestehenden Verhältnissen zum antizipierten eigenen Wahlvorteil ausliefert – und ihr Horizont regelmäßig nicht weiter aufgespannt ist, als unter der Sonne gewonnener Besetzungsmöglichkeiten sich und die ihrigen in Position zu halten und zu bringen.

Ganz gewiefte Zeitgenossen werfen an dieser Stelle regelmäßig einen verbalen Steinbrocken: Das war doch immer schon so! Ja, mag sein – dann aber ist's nicht Herr Khol, der unsere Erkenntnis befördert. Ein anderer Asylant hat das Stichwort gegeben, Walter Benjamin: "Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe." Gegen diese Erkenntnis ist die Warnung vor dem Aufkommen der illiberalen Demokratie in Österreich nur ein kindgerechtes Schauermärchen. (Alfred J. Noll, 27.2.2019)