Wenn Emanzipation von einer Frage des Geschlechts zu einer Frage der sozialen Verhältnisse wird, "dann wird es so richtig heiß und feministisch", sagt Lisz Hirn.

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Lisz Hirn warnt in ihrem Buch "Geht's noch! Warum die konservative Wende für Frauen gefährlich ist" vor "opportunistischer Gleichgültigkeit".

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Ausgehend von Max Frischs Drama Biedermann und die Brandstifter unterzieht Philosophin Lisz Hirn die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse einer kritischen Analyse und diagnostiziert eine konservative Offensive, die "unverblümt sagt, was sie wirklich will" und vor allem Frauen schadet, aber eben nicht nur ihnen. Anders als Frischs Ein Lehrstück ohne Lehre von 1958 warnt Lisz Hirn in ihrem Buch Geht's noch! Warum die konservative Wende für Frauen gefährlich ist (Molden-Verlag 2019) vor "opportunistischer Gleichgültigkeit" und macht sich für das Projekt Emanzipation stark, weil "wir alle nicht schon frei sind, sondern es erst werden müssen."

STANDARD: Sie sagen, die konservative Wende ist für Frauen gefährlich. Woran machen Sie diese "konservative Wende" fest?

Hirn: Das ist nicht nur ein österreichisches Phänomen, aber es lässt sich an konkreten Maßnahmen der türkis-blauen Regierung festmachen. Kinderbonus für besser verdienende Familien, freiwilliger Papamonat – alles Maßnahmen, die nicht die Frauen und Männer treffen, die es wirklich nötig hätten, sondern nur eine gewisse Klientel, die von vornherein durch die Emanzipation privilegiert war. Die "Conservative Message Machine" läuft bereits seit den 60er-Jahren und hat kontinuierlich das Bild der idyllischen Kleinfamilie und patriarchale Rollenbilder zementieren können. Sei es die ganz gewöhnliche Mutterrolle, die Frauen wieder ans Herz gelegt wird, oder Maßnahmen, die den Familienvater als Ernährer stärken sollen. Das wird von Konservativen in Europa und in Übersee durchgezogen. Es gibt einen gefährlichen konservativen Backlash.

STANDARD: Der Ausgangspunkt Ihres Buchs ist: "Die Ereignisse der letzten Jahre, sowohl in Österreich als auch in Deutschland, haben einem Konservativismus den Weg geebnet, der als politische Strömung lange in der Versenkung verschwunden war. Niemand hätte sich vorher freiwillig als ,konservativ' bezeichnen lassen." Was ist da passiert?

Hirn: Da muss man unterscheiden zwischen einer wirklich starren, konservativen Ideologie und dem, ob man bloß die Attribute des Konservativen übernimmt, etwa den klassischen Anzug oder das klassische Familienmodell mit dem Mann als Hauptverdiener und der Frau, die daheim bleibt. Aber es gibt einen Trend, Weiblichkeit wieder zu naturalisieren und zu essentialisieren. Der Schwenk zu diesen konservativen Werten hat mit der Unsicherheit in der Gesellschaft zu tun. Man sieht einfach, dass progressive, liberale Modelle viel länger brauchen, um Maßnahmen umzusetzen, die sich auch tatsächlich breit verwirklichen lassen. Meine These ist, dass die Emanzipation bis jetzt ja überhaupt nicht gelungen ist, sondern dass die davon profitiert haben, die schon privilegiert waren. Aber solange Emanzipation nicht bei denen angekommen ist, die sie wirklich nötig haben – ich denke da an Alleinerziehendenhaushalte, vor allem Frauen – ist sie nicht gelungen. Dann ist es umso leichter, durch eine kleine konservative Wende alles umzuschmeißen.

STANDARD: Warum ist diese konservative Wende für Frauen gefährlich? Für alle oder nur für bestimmte Gruppen?

Hirn: Sie ist nicht für alle gleich gefährlich. Die Frauenrechtlerinnen im 20. Jahrhundert, Simone de Beauvoir etwa, haben stark dafür argumentiert, dass Emanzipation nicht erfolgreich sein wird, solange Frauen nicht wirklich wirtschaftlich unabhängig sind. Ein Bild, das jetzt wieder sehr aufgeweicht wird. Es ist plötzlich wieder chic, sich freiwillig in Abhängigkeiten zu begeben und zu sagen, ich bleibe ein paar Jahre bei den Kindern daheim, was wirtschaftliche Abhängigkeit und finanzielle Einbußen – Frauen bekommen im Schnitt um 40 Prozent weniger Pension – zur Folge hat. Ich spreche mit vielen Frauen jenseits meiner Blase, die sagen: Na, welche Wahl habe ich denn in diesem Alter? Ja, ich könnte mich schon trennen, aber wie soll ich im Alter allein überleben? Das ist eine ganz aktuelle Thematik auch von Mittelstandsfrauen und nicht nur von Frauen am untersten Rand der Gesellschaft oder mit Migrationshintergrund. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die in den 60er-, 70er-Jahren, auch in der Frauenbewegung, so wichtig war, ist jetzt sehr weit zurückgedrängt von einem bequemen "Solange ich einigermaßen zurande komme und bequem leben kann, passt's ja eigentlich eh". Dabei wird vergessen, dass auch die Männer belastet werden. Es ist ja ein großes Vorurteil, zu sagen, die Männer gefallen sich in dieser Alleinverdienerrolle. Ja, einige natürlich, weil diese Rolle Macht bringt, aber der Druck, die Familie versorgen zu müssen, ist ja auch nicht zu unterschätzen. Auch die Männer verlieren, weil auch sie an ihren Entfaltungsmöglichkeiten gehindert werden, wenn ein Familienbild propagiert wird, das sagt, eigentlich ist der Papa nicht unbedingt notwendig. Das ist eine eindeutige Geschlechterdiskriminierung zuungunsten der Männer'

STANDARD: In Ihrem Buch steht: "Nicht die ,Bieder- und Bobofrauen' leiden unter dem aktuellen Backlash am meisten, sondern die Frauen, die bisher am wenigsten von Emanzipation und Feminismus profitiert haben." Haben sich die politisch aktiven Feministinnen zu wenig um alle Frauen gekümmert und mehr um die – im Vergleich zu anderen Frauen relativ – privilegierten Frauengruppen?

Hirn: Ich tue mir wahnsinnig schwer, Feminismus aufzuspalten. Ich bin sehr bewusst zurück zum alten Wort Emanzipation gekommen, weil ich finde, genau darum geht's. Es geht um die Befreiung aus Abhängigkeiten. Wenn wir sagen, wir wollen ein wirklich diskriminierendes Gesellschaftsbild aufweichen, dann müssen wir schauen, dass wir das verlagern von einer Frage des Geschlechts zu einer Frage der sozialen Verhältnisse. Wenn wir Maßnahmen treffen müssen für Frauen, die wirklich wenig verdienen, die am Existenzminimum sind, die vielleicht sprachlich oder bildungsmäßig in bedrängten Verhältnissen leben, dann wird es so richtig heiß und feministisch. Ich halte es für eine große Gefahr, zu sagen, es gibt einen schwarzen Feminismus, einen weißen, einen europäischen, den indischen oder einen islamischen Feminismus. Das ist kontraproduktiv. Das sollte man nicht gegeneinander ausspielen.

STANDARD: In der politischen Debatte geht es, wenn, dann um Frauenquoten. Sie stellen die Frage, ob eine Mütterquote eine Alternative wäre, um die Rollenstereotype dadurch ins Gegenteil zu verkehren. Wäre sie eine?

Hirn: Ich finde diese provokante Idee spannend, weil sie dort ansetzt, woran man die Schwäche des Frauseins aufhängt. Was schwächt eine Frau tatsächlich in ihren Entfaltungsmöglichkeiten? Da können wir über Körperlichkeit, physische Stärke etc. diskutieren. Das ist weniger interessant. Sozial interessant wird es da, wo es um die Fortpflanzungsfähigkeit geht, also um Verhütung, Mutterschaft oder Abtreibung. Das sind die Punkte, wo sich eine Frau ganz aktiv sozial schwächt, gerade wenn sie sich für Kinder entscheidet. Wenn ich ein Verständnis von Demokratie habe, dann ja wohl das, dass man versucht, Menschen, die in einer problematischen Situation sind, zu helfen und Fairness herzustellen. Die Mütterquote soll auch den Kampf zwischen Frauen mit Kindern und ohne Kinder, die von der konservativen Politik sehr gezielt gegeneinander ausgespielt werden, aufweichen. Egal, ob wir uns als Frauen für oder gegen Kinder entscheiden, das ist nicht das Thema. Eine Gesellschaft braucht Kinder. In Wirklichkeit werden beide Frauengruppen bestraft. Die einen mit sozialer Ächtung, weil sie keine Kinder haben, die anderen mit sozialer Unterdrückung, weil sie Kinder haben.

STANDARD: Stichwort: "Die Sache mit der Burka". Welche Rolle spielen "importierte Frauenbilder aus dem Nahen Osten" im feministischen Diskurs? Sie sagen mit Blick auf Bekleidungsverbote wie das Verhüllungsverbot: Diese Debatte mache "deutlich, dass die gegenwärtig herrschende Toleranz die westliche Demokratie gefährdet". Und: "Zwischen islamistischen, fundamental christlichen und ähnlichen wertkonservativen Biedermännern und der immer brachialer werdenden Rechten bestehen viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede." Welche?

Hirn: Beide maßen sich an, über den weiblichen Körper bestimmen zu können. Die einen ziehen ihn aus, die anderen ziehen ihn an. In Wirklichkeit geht es um dasselbe: die Kontrolle des weiblichen Körpers und seiner Fortpflanzungsfähigkeit. Auch die Bilder, wie eine Frau in der Familie zu sein hat, sind genau gleich. Die Hochachtung der Rolle als Mutter, das gespaltene Verhältnis zu Sexualität und die Dominanz des Männlichen im sexuellen Diskurs teilen sie ebenfalls. Oder wenn es darum geht, dass nur Eltern ihre Kinder aufklären sollen, da spielen die fundamental Christlichen auf derselben Ebene wie jeder radikal islamische Familienvater. Da sehe ich keine Unterschiede. Das Problem ist eher, und das sehe ich auch bei den Linken, dass wir das viel zu lange geduldet haben. Wir schlagen uns noch immer mit Kirchenkontexten über Misogynie und Missbrauch herum und haben das Problem auch in Bezug auf andere Kulturen. In Wirklichkeit waren wir inkonsequent. Wir hätten von Anfang an viel strikter dagegen protestieren müssen, statt das versöhnlich zu dulden.

STANDARD: Wie sollen wir in einer demokratischen Gesellschaft mit "patriarchalen Minderheiten", von denen in Ihrem Buch die Rede ist und die es ja auch in der "Mehrheitsgesellschaft" noch gibt, umgehen?

Hirn: Ich stimme nicht hundertprozentig zu, dass Zwang keine Lösung ist, aber ich meine nicht zwangsverdonnern. Ein Bildungssystem, das Ethikunterricht im Regelschulplan hat – und zwar nicht von Religionslehrern unterrichtet – wäre schon wesentlich. Wo wir die Frage stellen: Wie können wir zusammen leben? Oder die Beziehungen von Männern und Frauen jenseits von Religion und dem Familienbild daheim diskutieren. Und ganz wichtig wäre ein Biologieunterricht, der profunde Sexualaufklärung beinhaltet. Wenn wir diese Tabus langsam aufweichen, kommt das auch in die Familien hinein. (Lisa Nimmervoll, 3.3.2019)