Die Welt der Religionen ist bekanntermaßen äußerst bunt und vielfältig: Neben dem breiten Strom der bekannten Religionen gibt es eine Unzahl an Sonderentwicklungen, Kleingemeinschaften und Gruppen, die sich in sehr markanter Art und Weise von der Umgebungsgesellschaft abgrenzen. Die Entstehung, das Wachsen, und gegebenenfalls das Vergehen solcher Gemeinschaften ist eine Konstante der Religionsgeschichte. Zweifellos ist die Zeit des ausgehenden 20. Jahrhundert eine Phase gewesen, die in einem sehr großen Ausmaß vom Auftreten neuer Bewegungen geprägt war. Vielfach wurden diese Gemeinschaften mit dem hochproblematischen Begriff "Sekte" in eine Schublade gesteckt, die sich als nicht sinnvoll erwies. Bei all den Problemen, die so geartete Gemeinschaften durchaus mit sich bringen können, verstellt diese eindeutige Punzierung den Blick für die Unterschiede und suggeriert, dass wir es mit einer Kategorie von Gemeinschaften zu tun hätten, die ausschließlich unter dem Aspekt einer Problemanzeige zu betrachten wäre.

Vieles in der Geschichte dieser sogenannten "Sekten" muss aber in einen größeren historischen Rahmen gestellt werden und hat mit dem Aufbrechen traditioneller Gesellschaftsstrukturen in der Nachkriegszeit und dem immer stärkeren Bedeutungsverlust der konventionellen Religionen in Europa beziehungsweise in der "westlichen" Welt zu tun, die noch dazu ihr Heil oft in Religionsgemeinschaften asiatischen Ursprungs suchte. Oder aber in völlig neu konzipierten Gemeinschaften, die in ihrem Selbstverständnis in der christlichen Tradition standen. Diese Zeit brachte viele oft skurrile Blüten hervor und sollte nicht nur mit der "Sekten"-Problemanzeige betrachtet werden. In der Religionswissenschaft hat sich deshalb die neutrale Bezeichnung "neureligiöse Bewegung" durchgesetzt, die sich primär auf das jüngere Entstehungsdatum bezieht und die versucht, die Entstehung solcher Gemeinschaften in einen größeren kultur- und religionsgeschichtlichen Horizont einzupassen. 

"Es werde Licht"

Eine Gemeinschaft, die die an sich schon vielfältige Welt der Religionen im ausgehenden vorigen Jahrhundert noch bunter erscheinen ließ, war zweifellos der "Orden Fiat Lux" mit seiner Gründerin, die sich selbst den Namen "Uriella" gab. Erika Hedwig Bertschinger-Eicke, wie sie in Wahrheit hieß, starb Ende Februar dieses Jahres und damit schließt sich wohl ein weiteres Kapitel der klassischen "Sekten"-Geschichte des ausgehenden vorigen Jahrhunderts.

Mit ihrer seltsamen Gesamterscheinung, ihrer grotesken christbaumartigen Kostümierung, der eigentümlichen kindlich-naiv wirkenden Sprache und ihren diversen apokalyptischen Vorhersagen, die sie als selbsternanntes "Sprachrohr Gottes" machte, war sie eine Zeit lang eine medial sehr präsente Figur, zumal sie selbst die Öffentlichkeit aktiv suchte. Ihre Fernsehauftritte, die sie entweder allein oder gemeinsam mit ihrem dritten Ehemann "Icordo" in den 80ern und 90ern bei diversen Talkshow-Formaten auf RTL oder Sat 1, aber insbesondere im heimatlichen Schweizer Fernsehen absolvierte, waren oftmals Anlass für eine sehr intensive mediale Wahrnehmung, die zwischen ungläubigem Staunen und irritiertem Amüsement changierte.

Dani Nieth

Auftritt Uriellas mit ihrem Mann "Icordo" in der Sendung "KlarText". Interview ab 2:28.

Davon zeugen auch diverse Videoaufnahmen, beispielsweise Darstellungen ihrer medialen Sitzungen, wo sie in "Volltrance" Mitteilungen Jesu oder Marias wiedergab, oder ihr sogenanntes "Arthrumwasser" durch Umrühren mit einem Silberlöffel in einer Badewanne "auflädt", und die zum Teil seltsamen Vorhersagen über den Untergang der Welt (oder Teile von ihr), die nachträglich wieder korrigiert werden mussten.

Vieles daran wirkt so bizarr, dass man beim Betrachten vom unguten Gefühl beschlichen wird, ob das denn nun wirklich "ernst" gemeint sein kann. Wobei in diesem Fall aber entscheidend ist, dass sich um die Person eine Gemeinschaft bildete, für die Uriella den zentralen Orientierungspunkt darstellte. Erklärlich wird das nur bei näherer Beschäftigung mit ihrer Geschichte und dem Versuch einer Kontextualisierung.

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Eine religiöse Erweckungsgeschichte und ein Reitunfall mit ungeahnten Konsequenzen

Soweit Informationen verfügbar sind, wurde die gebürtige Schweizerin Erika Bertschinger-Eicke in eine traditionelle katholische Familie geboren, ließ sich zur Dolmetscherin ausbilden und arbeitete anfänglich als Direktionssekretärin in Zürich. Laut eigenen Angaben soll sie schon 1971 als "Geistheilerin und Lebensberaterin" tätig geworden sein, noch bevor sie Jahre später den Schweizer Unternehmer Max Bertschinger heiratete. Mit ihm ergibt sich ein Bezug zu einer Gemeinschaft namens "Geistige Loge Zürich (Pro Beatrice)", bei der sie wohl von 1967 bis 1970 Mitglied gewesen war und die vermutlich eine wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung bildete.

Diese Gemeinschaft ist eine der ältesten und bedeutendsten "christlich-spiritualistischen" Gemeinschaften im deutschen Sprachraum. Mit dem Begriff "christlicher Spiritualismus" bezieht man sich auf Gemeinschaften, die zwar von ihrem Selbstverständnis auf dem Boden der christlichen Tradition stehen, in deren Fokus aber (neu) vermittelte Botschaften stehen, die sich entweder auf individuell relevante oder auch allgemein gültige Themen beziehen können.

Die Strömung hat eine wichtige Wurzel in der Tradition des Spiritismus, einer Bewegung, die ab dem 19. Jahrhundert von den USA aus eine Ausbreitung erfuhr und in deren Mittelpunkt die Vermittlung von Botschaften aus dem Jenseits stand – anfänglich vor allem diverser Verstorbener, die man herbeirufen und befragen konnte. Früh erweiterte sich der Kreis der zu Befragenden dann über gewöhnliche Verwandte hinaus hin zu (vermeintlich) bedeutenden Lehrern der Menschheit aus anderen Dimensionen, die neue religiöse Inhalte vermittelten. Der christliche Spiritualismus ist also so etwas wie der christlich gefärbte Zweig dieser Tradition, dem die New-Age-Variante des bekannteren "Channeling" gegenübersteht. Dieses Phänomen, für das es in der Religionsgeschichte viel Vergleichbares gibt, hat in der modernen Variante viel mit einem neuzeitlichen Individualismus zu tun: An Stelle einer traditionellen Hierarchie tritt eine einzelne Person, ausgestattet mit dementsprechenden Selbstbewusstsein und dem Charisma, das letztendlich zur Entstehung einer (zumeist sehr streng hierarchischen) Gemeinschaft führt.  

Dass nun Mitglieder solcher Gemeinschaften die Sache selbst in die Hand nehmen und zu Medien werden, ist nicht so ungewöhnlich. Bertschinger-Eicke hatte nach eigenen Angaben schon im Februar 1972 zum ersten Mal Kontakt mit Jesus Christus. Nach einem Reitunfall im Jahr 1973, wo sie sich schwere Kopfverletzungen zuzog, scheint sich dieser Reigen von Begegnungen intensiviert zu haben. Ihr erstes von ihr als "Volltrance" bezeichnetes Erlebnis wird dann auf die Weihnachtsnacht 1975 datiert. Seit damals behauptet sie, sich im engen geistigen Kontakt mit Jesus zu befinden, und vermittelt bis etwa Ende 1996 als selbsternanntes "Sprachrohr Gottes" weit über 500 Botschaften. Seit dieser Zeit ist offensichtlich auch der Name "Uriella" in Gebrauch, was nichts anderes als die weibliche Form des hebräischen Namens "Uriel" sein soll, der Name eines Engels aus der jüdischen Tradition.

Ein "Orden" wird gegründet

1978 heiratete Uriella den um 27 Jahre älteren Max Bertschinger und zog in eine Villa in Egg bei Zürich. Diese bildete auch das Zentrum der 1980 – "im Auftrag von Jesus Christus persönlich" – gegründeten Gemeinschaft "Orden Fiat Lux". Fiat Lux war anfänglich wohl eher eine lose Gruppe von Personen um UrielIa, die neben den Geistmitteilungen auch durch ihre angeblichen heilerischen Fähigkeiten zu ihr gefunden hatten. Das schon genannte "Athrumwasser" war eines der erwerbbaren Heilprodukte: Es wurde von Uriella selbst in ihrer Badewanne zubereitet, in der sie genau 21 Minuten lang normales Leitungswasser mit einem Silberlöffel rührte, um es mit göttlichen Strahlen aufzuladen. Ein gewisser Geschäftssinn war ihr von Anfang an nicht abzusprechen.

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Uriellas erster Mann verstarb 1982, doch fand sie bereits 1983 mit einem katholischen Pfarrer ihr nächstes Glück. "Uriello", wie er genannt wurde, gab angeblich für die Gemeinschaft seine Pfarrerstelle nach 22 Jahren abrupt auf. Von ihm dürften auch Impulse für weitere inhaltliche Verschiebungen gekommen sein, die auf eine stärkere Fokussierung auf die Figur von Uriella hinauslaufen. So wurde beispielsweise die Bibel zu einer Fälschung erklärt, während nur die von Uriella übermittelten Botschaften Jesu authentische Mitteilungen wären. Zudem wurden in einem immer größeren Ausmaß damals sehr präsente Elemente der Populäresoterik übernommen, unter anderem der Ufologie oder pseudowissenschaftliche Erklärungsmuster. Von klassisch christlichen Elementen erfuhr vor allem die "Nächstenliebe" Betonung. Ein angebliches karitatives Engagement und der Einsatz für Personen am Rand der Gesellschaft, die vor Uriellas Villa Brot und Geld verteilt bekamen, erfuhren eine besondere Hervorhebung.

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Expansion

In den folgenden Jahren expandierte die Gemeinschaft, unter anderem nach Österreich und Deutschland, wo sich Anhänger in klosterähnlichen Gemeinschaften zusammenfanden. Finanziell dürfte der "Orden" in dieser Zeit zudem vom Verkauf verschiedenartiger als "Apotheke Gottes" bezeichneter Naturheilmittel profitiert haben. Wie hoch allerdings der reale Gewinn war, lässt sich mangels Einblick schwer sagen. Medienberichte, die allerdings zumeist eine einseitig kritische Sicht hatten, kolportierten Umsätze von Hunderttausenden, zuweilen sogar Millionen Schweizer Franken.

Nach dem Unfalltod ihres zweiten Ehemanns 1988, den Uriella angeblich vorhergesehen hatte (aber offensichtlich nicht verhindern konnte), heiratete Uriella schließlich 1991 Eberhard Eicke, der seit 1987 in der Gemeinschaft war und von nun an als "Icordo" an ihrer Seite wirkte. Dem diplomierten Kaufmann und Marketingexperten ist wohl zuzuschreiben, dass insbesondere in den folgenden Jahren eine sehr aktive Öffentlichkeitsarbeit betrieben wurde, die sich unter anderem der damals entstehenden Szene des Privatfernsehens bediente. Eine bedeutende Rolle kommen in diesem Zusammenhang Aufsehen erregenden Vorhersagen diverser globaler Katastrophen zu. Eine der bekanntesten Prophezeiungen, die Uriella angeblich in Volltrance direkt von Jesus erfahren haben soll, sagte einen "3. Weltkrieg" für August 1988 vorher, der neben einem "Weltbörsencrash" mit "Weltwirtschaftszusammenbruch, zufolge Computerviren", dem bevorstehenden Einmarsch der Russen in Deutschland auch einen Meteoriteneinschlag, Vulkanausbrüche oder Seebeben beinhaltete. Nachdem die Welt auch im September 1988 noch weiter bestand, wurde in einer dünnen Aussendung ein "kurzer Aufschub für die allerletzte Reinigungsphase der Erde" kolportiert (der glücklicherweise und offensichtlich bis heute andauert).

Das Spiel mit Vorhersagen ist eine Konstante in vielen vergleichbaren Gemeinschaften und hat viel mit deren Wirkung nach innen zu tun, weil man mit dem Hinweis auf einen knapp bevorstehenden Weltuntergang eine größere Bindung der Mitglieder erreichen kann. Probleme ergeben sich allerdings beim Nichteintreten solcher Vorhersagen, weshalb jeder Religionsgründer gut beraten ist, keine allzu detaillierten Ankündigungen vorzunehmen. Es macht viel Arbeit, diese nachträglich wieder zu korrigieren. Dabei kann aber zuweilen ein stillschweigendes Übergehen beobachtet werden, indem man an deren Stelle weitere Vorhersagen stellt. Dieses Phänomen einer sogenannten "rolling prophecy" kann durchaus funktionieren, wie andere Gemeinschaften bezeugen. Zudem darf die beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit nicht außer Acht gelassen werden, die solche Vorhersagen mit sich bringen.

Konflikte und ein langsames Vergehen

Immer wieder kam es zu Konflikten zwischen dem sehr hermetischen "Orden" und der Umgebungsgesellschaft, wie das für so geartete Gemeinschaften typisch ist. Uriella stand zudem mehrere Male vor Gericht, unter anderem wegen Verstößen gegen das Heilmittelgesetz, wegen Schmuggels, Steuerdelikten oder sogar wegen fahrlässiger Tötung. Oft wurde auch in diversen Medienberichten von verschiedenen "Aussteigern" über das angeblich rigorose Regime in der Gemeinschaft berichtet. Die Mitglieder mussten einem strengen Tagesablauf folgen, der auch den Verzicht auf Alkohol, Nikotin, Sex und Medienkonsum beinhaltete; Kontakt mit der Außenwelt war grundsätzlich verpönt. Spätestens nach der Jahrtausendwende häuften sich zudem die Schwierigkeiten. Es kam zu einigen recht teuren Niederlagen vor Gericht im Zusammenhang mit Prozessen von Exmitgliedern; weitere Prophezeiungen, die nachträglich wieder korrigiert werden mussten, und Austritte fügten dem "Orden" beträchtlichen Schaden zu. Die Folge war ein Rückzug aus der Öffentlichkeit, der bald mit Gerüchten über Krankheiten Uriellas verbunden war, die die letzten Jahre in der Medienberichterstattung dominierten.

Da die Gemeinschaft ganz eng auf die Person Uriellas zugeschnitten war und auch immer stärker fokussiert wurde, bleibt die Frage, ob es nach ihrem Tod einen Fortbestand geben kann. Einen Nachfolger hat sie offensichtlich nie bestimmt und es scheint zweifelhaft, dass ihr Ehemann "Icordo" diese Rolle übernehmen könnte. Zudem ist die Gemeinschaft in den letzten Jahren vermutlich geschrumpft und stark überaltert. Ein weiteres Kapitel der Nachkriegsgeschichte der "Sekten" schließt sich somit voraussichtlich. Es war zweifellos ein äußerst buntes. (Franz Winter, 13.3.2019)

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