Der Jumpsuit sitzt, die Superkraft braucht noch mentales Training. Brie Larson bewahrt sich als "Captain Marvel" irdische Natürlichkeit.

Foto: Marvel

Carol alias Captain Marvel mit Sidekick Nick Fury (Samuel L. Jackson) – auch eine Reverenz an "Pulp Fiction".

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Sie hängt an einem Seil und stürzt beim Versuch, sich aufs nächste hinüberzuhangeln. Sie drückt im Gokart aufs Gaspedal und durchstößt den Heuballen an der Straßenseite. Und auch sonst schlägt Carol Danvers (Brie Larson) gern einmal beim Versuch, sich vom (männlichen) Rest zu unterscheiden, unsanft auf dem Boden auf. Man könnte das als grundmenschlichen Defekt bezeichnen, denn im Vergleich zu höherentwickelten Wesen da draußen in der Galaxie sind wir einfach nicht perfekt genug. Da es aber eine Frau auf dem Weg zur ersten richtigen Superheldin aus dem Hause Marvel ist, die laufend Hämatome kassiert, bevor sie gegen die Schwerkraft obsiegt, gewinnen diese Anstrengungen auch geschlechterpolitische Symbolik.

Denn es hat tatsächlich lang gedauert, bis Captain Marvel nun im Zuge eines wachsenden Bewusstseins für Diversität die Leinwand erobern kann – und all das reparieren soll, was bisher versäumt wurde. Als Comicfigur wurde Carol Danvers 1968 eingeführt, damals war sie nicht viel mehr als die Gespielin für den männlichen Helden. Generell tat sich der sonst so erfindungsreiche Stan Lee damit schwer, weibliche Figuren zu entwerfen, die mehr können, als Tassen mit Gedankenkraft zu verschieben. Danvers war immerhin schon in den 1970ern als Ms. Marvel mit feministischen Anliegen wie "gleichem Lohn" aktiv. Doch erst 2012 wurde ihre Solokarriere als Captain Marvel ernsthaft in Angriff genommen.

Superheldinnen als Risiko

Die Zögerlichkeit, Comic-Heroinnen zu Titelheldinnen zu machen, kommt auch daher, dass man mit ihnen bis Wonder Woman keine großen Kassenmagneten kreieren konnte. Captain Marvel wird von Produzent Kevin Feige geschickt vor dem großen Avengers: Endgame Ende April lanciert, wenn die Erwartungshaltung besonders hoch ist. Die Ouvertüre für eine Heldin, die erst zu ihrem Outfit und, viel wichtiger, zu Eigenständigkeit finden muss, versteht sich auch als Testszenario für anstehende Frauenprojekte wie einen eigenen Black Widow-Film (Scarlett Johansson).

Captain Marvel funktioniert selbst wie eine Rakete, die in mehreren Stufen gezündet wird. In der ersten wird Carol, Mitglied einer Militärtruppe der Kree, von Söldnern der Gegenseite, der Skrull, gefangen genommen. Über sie glauben sie, an eine wichtige Energiequelle zu gelangen. Carol kann sich an nichts erinnern, auch nicht an ihre irdische Herkunft. Nur zusammenhanglose Fragmente aus ihrer Vergangenheit als US-Air-Force-Pilotin geistern wirr durch ihren Kopf.

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Carols menschliche Identität zurückzuerlangen, damit Kopf und Körper zu einer Einheit werden, ist die innere Mission, der das Regieduo Anna Boden und Ryan K. Fleck (Half Nelson) in seinem ersten großen Blockbuster folgt. Es ist eine klassische Geschichte der Selbsterkundung, für welche die Heldin ein reines Gewissen benötigt. Nur so kann sie zwischen verfeindeten Linien ihren Platz bestimmen. Bis dahin ist Carol, deren durchschlagendste Superkraft dem Wort Handfeuerwaffe neue Bedeutung gibt, nur eine starke Figur auf dem Schachbrett.

Zurück zu "Pulp Fiction"

Die gelungenste Idee von Captain Marvel ist die Wahl des zeitlichen Hintergrunds. Carol stürzt wieder einmal ab. Diesmal auf die Erde, genauer: in eine Blockbuster-Videofiliale im L.A. der 1990er-Jahre. Mit Agent Nick Fury steht ihr ein digital verjüngter Samuel L. Jackson sogleich als schnoddriger Sidekick zur Hand. Die Regisseure Boden und Fleck haben ihren Pulp Fiction-Moment, und auch in der Musik und Farbgebung zeigen sie sich als detailsinnige Retrokonstrukteure. Die Gags gehen oft auf Kosten der damaligen Kommunikationstechnologie. Alta Vista, wer erinnert sich?

Man merkt dem Film das Bemühen an, echt und natürlich auszusehen – als Gegengewicht zum digitalen Zauber, ohne den keine Produktion dieser Größe mehr auskommt. Brie Larson, Oscar-gekrönt für Room, strahlt weniger überirdisch als Gal Gadot in Wonder Woman. Bei ihr schimmert noch die Highschool-Schönheit durch, in die man verliebt war. Eine Superheldin als All American Girl. Mit Erdung.

Bei Marvel überzeugen oft die Charaktere mehr als die Handlung. Die wirkt auch diesmal eher unnötig vertrackt. Mit Doppelspielen, Gestaltwandlern und Treuebrüchen wird Carols Weg zur Superheldin hindernisreicher, gewinnt aber nicht unbedingt an Schärfe. Man wartet ohnehin nur auf den Moment, in dem Captain Marvel nicht mehr hinfällt, sondern fliegt. Damit ihr endlich auch der Himmel gehört. Dass der Moment mit heroischem Nachdruck kommt, steht nie außer Frage. (Dominik Kamalzadeh, 6.3.2019)