Den Schulversuch Ethikunterricht gibt es seit 22 Jahren. Dennoch gelingt es der Regierung, die Überführung in das Regelschulwesen so zu gestalten, dass weder die organisatorischen Fragen gelöst sind noch das inhaltliche Konzept überzeugt.

Die Herausforderungen an den Schulen sind groß. Was tun, wenn ein Zwölfjähriger seine Mitschülerinnen in gute und schlechte Musliminnen einteilt? Was tun, wenn Buben ihrer Lehrerin den Respekt verweigern, weil sie eine Frau ist? Was tun, wenn Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen wollen?

In all diesen Fällen muss die Schule einschreiten. Klar. Aber allein durch Sanktionen werden sich die Probleme nicht lösen lassen. Diese müssen auch diskutiert werden. Und der ideale Ort für so eine Auseinandersetzung ist ein Ethik- und Religionenunterricht, an dem unabhängig vom Bekenntnis alle teilnehmen. Dort kann gemeinsam über die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft ebenso diskutiert werden wie über das Thema Abtreibung. Dort kann gefragt werden, warum religiöse Toleranz und eine offene Gesellschaft unabdingbar sind. Oder auch die uralte Menschheitsfrage: "Woher komme ich, und wohin gehe ich?"

Karikatur: Michael Murschetz

Der Regierungsbeschluss für einen verbindlichen Ethikunterricht an allen Schulen und in allen Schulstufen wäre daher prinzipiell zu begrüßen. Der Haken liegt im Detail.

Organisatorische Defizite

Derzeit gibt es den Schulversuch Ethikunterricht an 211 Schulen. Im Fach ausgebildete Lehrkräfte sind Mangelware, zumal die Ausbildung fast nur berufsbegleitend erfolgt. Auf ein eigenes Lehramtsstudium für entsprechende Lehrkräfte an unseren Universitäten warten wir seit langem. Es wird wieder einmal "mittelfristig" versprochen. Mit der nebenberuflichen Ausbildung der benötigten Lehrkräfte an den über 6000 Schulen sind die Universitäten und Pädagogischen Hochschulen aber heillos überfordert, weil dafür weder das notwendige Personal noch die Räumlichkeiten zur Verfügung stehen.

Ein Argument für den Ethikunterricht ist, dass Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, keine Freistunde mehr haben sollen. Es ist daher nur schwer nachvollziehbar, warum dann künftig für den Religionsunterricht zwei, für Ethik aber nur eine Stunde vorgesehen ist. Wenn zudem der Religionsunterricht für kleine Gruppen einer religiösen Minderheit am Nachmittag stattfindet, dann haben diese Schülerinnen und Schüler am Vormittag während der Ethikstunde erst recht wieder frei. Man kann sich die Furchen auf der Stirn von Stundenplanverantwortlichen vorstellen.

Kitt der Multikultigesellschaft

Die Auseinandersetzung über den gesellschaftlichen Kitt ist ebenso unerlässlich wie schwierig. Im Artikel 14 hält das Bundesverfassungsgesetz unter § 5a zurecht fest, dass in der Schule "jeder Jugendliche (...) zu selbstständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt werden" und gegenüber "dem politischen, religiösen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen" sein soll.

Unsere Gesellschaft ist multiethnisch, multikulturell und multireligiös. In Wien sind katholische Kinder in der Pflichtschule bereits in der Minderheit. Die Auseinandersetzung über den gesellschaftlichen Kitt ist daher notwendig – vor allem in der Schule.

Auch eine offene Gesellschaft ohne absolutes "Wertereservoir" braucht für den inneren Zusammenhalt verbindliche Werte. Diese sind aber eben nicht ein für alle Mal fixiert, sondern müssen immer wieder neu ausverhandelt und diskutiert werden – die gegenwärtige Debatte um Menschenrechte beweist es. In der Schule ist ein Ethik- und Religionenunterricht für alle Kinder der richtige Ort dafür. Der Plan der Regierung – und das ist der größte Fehler des Vorschlags – sieht aber vor, dass nur Konfessionsfreie und "Flüchtlinge" aus dem konfessionellen Religionsunterricht einen solchen Unterricht besuchen.

Ich glaube übrigens nicht, dass der konfessionelle Religionsunterricht aus unseren Schulen verbannt werden soll. Er kann auf freiwilliger Basis weiter fortbestehen. De facto ist er ja jetzt schon freiwillig, denn – ein Widerspruch in sich – eine Abmeldung vom "Pflichtfach" ist möglich.

Krise des Religionsunterrichts

Die vielen Abmeldungen vom Religionsunterricht – genaue Zahlen liegen dem Ministerium bezeichnenderweise gar nicht vor – sind ein Beleg dafür, dass dieser schon lange nicht mehr seine ursprüngliche Bedeutung hat. Der konfessionelle Religionsunterricht ist in der Krise – je nach Konfession aus unterschiedlichen Gründen.

Der Universitätsprofessor Anton Bucher hat in Salzburg und Oberösterreich schon vor Jahren eine repräsentative Umfrage über die religionsdidaktischen Zielsetzungen von mehr als 700 katholischen Religionslehrkräften gemacht. Das Ergebnis: Nur fünf Prozent arbeiten laut eigenen Angaben "intensiv" daran, dass Schülerinnen und Schüler die "Glaubenslehre der Kirche kennenlernen", und nicht einmal einem Viertel ist es ein starkes Anliegen, dass sie qua Religionsunterricht "praktizierende Mitglieder der Kirche werden". Hingegen wollen 92 Prozent, dass die Jugendlichen "ihre Identität finden" und 91 Prozent, dass sie "Andersgläubige tolerieren". Die letzten beiden Zahlen sind erfreulich und im Sinn eines Ethikunterrichts. Der eigentliche Grund dafür, warum es einen konfessionellen Religionsunterricht gibt, sind aber die ersten beiden Punkte.

Staatlich ausgebildete Lehrer

Wir brauchen das, was in vielen Ländern – darunter erzkonservative Schweizer Kantone und deutsche Bundesländer – seit Jahrzehnten erprobt ist und funktioniert: einen Ethik- und Religionenunterricht von staatlich ausgebildeten Lehrkräften, in dem katholische, konfessionsfreie, evangelische, muslimische Kinder und Jugendliche und ihre Lehrperson miteinander diskutieren können. (Harald Walser, 9.3.2019)