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Proeuropäische Hundebesitzer machten aktionistisch darauf aufmerksam, dass ihre Lieblinge lieber Futter aus der Europäischen Union zu sich nehmen würden.

Foto: REUTERS/Henry Nicholls

Als Phil Manley aufwuchs, wurde in seiner Familie nie viel über Politik geredet. Auch im Gespräch mit Freunden im Pub hielt sich der heutige IT-Berater und Vater von drei Kindern aus dem südenglischen Küstenstädtchen Christchurch zurück: "Ich hörte zu, aber ich hatte keine ausgeprägten Meinungen."

Doch der Brexit hat alles verändert. Im Pub wurde in den Wochen nach Großbritanniens knapper Austrittsentscheidung mit 52 zu 48 Prozent im Juni 2016 von kaum etwas anderem gesprochen – "und das ist auch so geblieben". Vor allem aber erlebte Manley im engsten Umfeld einen Schock: Seine Eltern, heute 75 und 74 Jahre alt, hatten für den Austritt ("leave") gestimmt, während er selbst sein Kreuz bei "remain", beim EU-Verbleib, gemacht hatte. "Ich konnte das gar nicht glauben", erinnert sich der mit der Deutschen Babs Gierlichs zusammenlebende Engländer an diesen Moment. "Ich sagte: Ihr habt halb deutsche Enkelkinder, eine deutsche Schwiegertochter. Wie könnt ihr das machen?"

Diese Frage wurde landesweit wohl hunderttausendfach gestellt. Allerorten hat der Brexit Familien und Freundeskreise entzweit, Beziehungen und Ehen gesprengt. Wie im Privaten so auch im Politischen: Während England und Wales mehrheitlich den EU-Austritt befürworteten, wollten Nordirland und Schottland bleiben. London: "remain". Birmingham: "leave". Liverpool und Manchester: "remain". Sheffield und Sunderland: "leave". – Der Riss geht quer durchs Land. Das Zusammensein mit seinen Eltern, sagt Manley, fühle sich jetzt oft "uncomfortable" an. Ungemütlich.

Im kürzlich erschienenen Roman "Middle England" hat Jonathan Coe die ätzende Wirkung der Volksabstimmung auf das Privatleben seiner Landsleute satirisch verarbeitet. Zwei Hauptfiguren, Sophie und Ian, reichen nicht zuletzt wegen unterschiedlicher Auffassungen über Großbritannien die vorläufige Trennung ein.

Politik kein Thema in der Ehe

Daran würden Lucy und Frank Silver nicht einmal im Traum denken. Vorsichtshalber sperrte das Londoner Paar die Politik aus ihrer mehr als 30-jährigen Ehe aus: "Wir haben uns immer verheimlicht, für welche Partei wir bei Wahlen gestimmt haben", erinnert sich die pensionierte Schulsekretärin (61) lachend. Dass es Unterschiede gab, lag auf der Hand: Während Lucy aus einer linksliberalen Familie stammt, steht Frank rechts der Mitte. "Lucy verortet mich irgendwo rechts von Dschingis Khan", glaubt der Immobilienhändler (64) sogar.

Lucy Silver fühlte sich "hin- und hergerissen", machte am Ende aber doch ihr Kreuz bei "remain": "Ich fand, es sei besser, die nötigen Veränderungen von innen heraus zu machen." Mit dem Status quo war sie ebenso wenig zufrieden wie ihr Mann: Frank Silver beklagt das "demokratische Defizit" der EU und wehrt sich gegen die vielen Verordnungen. Er wollte den Austritt – und stand damit in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis eher allein da: Die Silvers leben im Wahlkreis von Labour-Chef Jeremy Corbyn; Nord-Islington stimmte mit Dreiviertelmehrheit für "remain". "Ich versuchte, andere von meiner Meinung zu überzeugen. Meine Stammtischbrüder waren für Europa, da war ich der Einzige."

Wenn das Paar heute zum Abendessen eingeladen wird, steht eines fest: "Lass' uns lieber nicht über den Brexit sprechen. Das stiftet nur Unfrieden."

Sprachlosigkeit macht sich breit

Die Wissenschaft unterstreicht die Sprachlosigkeit. Die Wählerschaft sei vom Brexit stark verändert, fasst Professor Anand Menon die Ergebnisse einer Studie über den Brexit und die öffentliche Meinung des Thinktanks Britain in a Changed Europe zusammen: "Die Brexit-Identität hat stärkere soziale und emotionale Macht als die Zuordnung zu Parteien." John Curtice von der Uni Strathclyde in Glasgow hat dazu auch eine Zahl parat: 77 Prozent der britischen Erwachsenen identifizieren sich stark oder sehr stark mit "leave" oder "remain". Und beide Lager verharren in ihrer Seifenblase.

Die Politik hat das befördert, glaubt Lucy Silver. "Ich habe nie verstanden, warum man den Austrittsprozess nicht parteiübergreifend organisiert hat." Ähnlich argumentiert Phil Manley in Christchurch: "Man hat den Eindruck, dass die sich immer nur um sich selbst drehen."

Phil Manley und seine Familie wollen für ein zweites Referendum auf die Straße gehen, obwohl Babs Gierlichs auch diesmal nicht mitstimmen könnte: "Ich liebe die Gegend und das Land, aber ich bin auch sehr deutsch." Zur Begründung für den neuerlichen Urnengang nennt sie die Gründe, die viele EU-Befürworter vorbringen: 2016 seien viele "Remainer", zumal Studierende, gar nicht zu den Urnen gegangen. "Die glaubten, die Entscheidung sei sowieso klar." Gern wird auch auf die Korrelation zwischen Alter und Brexit-Entscheidung verwiesen. Tatsächlich ergaben Nachwahlbefragungen, dass ältere Menschen häufiger für den EU-Austritt stimmten als junge.

Ob sich das Meinungsbild verändert hat? Zwar sprächen sich bei einer Wiederholung der Frage vom Juni 2016 seit Monaten rund 55 Prozent der Briten für den EU-Verbleib aus. Wollen die Menschen aber wirklich ein zweites Mal gefragt werden? Darauf antworten bestenfalls 46 Prozent mit Ja. Wahrscheinlich fürchtet sich die Mehrheit mehr vor einem weiteren Schlagabtausch als vor negativen Brexit-Folgen. Phil Manley bliebe wenigstens ein weiteres politisches Gespräch mit seinen Eltern erspart. (Sebastian Borger aus Christchurch, 12.3.2019)