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Demonstranten in Westminster freuten sich darüber, dass Großbritannien nicht ohne Deal aus der EU ausscheiden soll – und hoffen, dass das Land vielleicht doch Mitglied bleibt.

Foto: AP / Tim Ireland

Sicher ist nur: Die Ungewissheit hält an. Zwar bestimmte das Londoner Unterhaus am Mittwochabend in zwei Abstimmungen mit knappen Mehrheiten, einen No-Deal-Brexit zu vermeiden – man will also nur mit Austrittsvertrag die EU verlassen; doch solange keine Alternative gefunden ist, gilt der Austrittstermin 29. März Mitternacht als gesetzlich festgeschrieben. Ein vertragsloser EU-Austritt war mit Stand Mittwochabend also immer noch möglich.

Und einfacher wird es für die Briten wohl nicht, aus der EU kommen sehr abwartende und auch einige ärgerliche Signale. Der "Guardian" zitierte anonym einen EU-Beamten. Es sei, als habe die Titanic dafür gestimmt, dass sich der Eisberg bewegen solle, sagte dieser. Insbesondere wird es nun noch schwieriger, da die Regierung von Premierministerin Theresa May weiter massiv Autorität verliert. May hatte die eigenen konservativen Abgeordneten ursprünglich aufgefordert, gegen einen No-Deal-Brexit zu stimmen – damit allerdings die Regierungsvorlage gemeint, die zwar einen Austritt ohne Abkommen ausschloss, aber den 29. März weiterhin als Datum für den EU-Austritt festsetzte und "No Deal" in Abwesenheit eines Abkommens für dieses Datum festhielt.

Pläne umgestoßen

Dass es damit nichts werden würde, war schon vor der eigentlichen Abstimmung klar: Zuvor wurde nämlich noch über einen Abänderungsantrag abgestimmt, den die EU-freundliche konservative Abgeordnete Caroline Spelman eingebracht hatte. Dieser schlug vor, aus dem Text der Regierung den Verweis auf den 29. März und weitere Einschränkungen zu streichen – und damit die Regierung auf lange Zeit aufzufordern, "No Deal" zu vermeiden. Weil sich viele konservative Abgeordnete dabei ihrer Stimmen enthielten, wurde der Antrag überraschend mit 312 zu 308 Stimmen angenommen.

ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch berichtet aus London, welche Schritte Premierministerin Theresa May noch vor dem Brexit machen wird.
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Und plötzlich war May nicht mehr für ein Ja: Sie schickte ihre Fraktionschefs aus, um Abgeordnete von der Zustimmung, für die gerade auch May noch geworben hatte, wieder abzubringen. Ohne Erfolg: Der Antrag wurde schließlich mit 321 zu 278 Stimmen angenommen. Bei der Abstimmung enthielten sich auch mehrere Mitglieder der Regierung, darunter die Arbeitsministerin Amber Rudd.

"In normalen Zeiten wäre das ein Anlass für eine Entlassung", merkte dazu ein hochrangiges Mitglied der Tories an. Nicht so in Brexit-Zeiten: Die Regierung ließ wissen, wer sich nur enthalten habe, statt gegen die Regierung zu stimmen, dürfe im Amt bleiben. Die für Rechte behinderter Menschen zuständige Staatssekretärin Sarah Newton erklärte ihren Rücktritt. Mit weiteren Demissionen wurde gerechnet.

Lange Verschiebung als Drohung

Wie es jetzt weitergeht, ist nicht ganz klar: May will am Donnerstag über einen Antrag ihrer Regierung abstimmen lassen, mit dem der für 29. März geplante EU-Austritt verschoben werden soll. Als neuer Termin wird der 30. Juni genannt – allerdings nur für den Fall, dass das Parlament bis zum 20. März signalisiere, wann und wie es denn nun aus der EU aussteigen wolle.

Was damit gemeint ist: May will ihren zweimal gescheiterten Austrittsdeal mit der EU erneut dem Parlament vorlegen, diesmal mit einer impliziten Drohung an die EU-Gegner. Scheitere das Abkommen erneut im Unterhaus, werde sich ihre Regierung gezwungen sehen, um eine Verlängerung auf ein wesentlich späteres Datum anzusuchen. Großbritannien würde dann auch an der EU-Wahl teilnehmen müssen. "Mein Deal oder womöglich kein Brexit", lautet die darin enthaltene Drohung.

EU-Zustimmung unsicher

Um das wirklich umzusetzen, müsste freilich auch die EU mitmachen. Und so ganz sicher ist das nicht. Zwar haben bisher die meisten EU-Regierungen – sie müssten einstimmig ihren Sanktus erteilen – Entgegenkommen signalisiert. Dass man den Briten aber entgegenkommen müsse, während diese nicht genau sagen könnten, mit welchem Ziel man das tun soll – das stößt bei vielen in Brüssel und in den Hauptstädten auf Ablehnung. Das gilt besonders wegen der EU-Wahl im Mai, aber auch wegen anderer offener Fragen: Dürfen britische Regierungsmitglieder und Kommissare in dieser Übergangszeit weiter Entscheidungen fällen, die die Zukunft der ganzen Union betreffen? Klare Antworten gibt es darauf nicht, das Chaos schiene vorprogrammiert.

"Das Vereinigte Königreich muss uns sagen, was es will", sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier am Mittwoch. Die EU erwarte eine "klare Linie, bevor wir überhaupt über eine mögliche Verlängerung entscheiden". Der Austrittsvertrag liege vor, und bei diesem werde es bleiben; die Verhandlungen seien beendet. Das bekräftigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, und auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sah kaum Handlungsspielraum.

Der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, Guy Verhofstadt, forderte die britischen Parlamentarier auf, einen parteiübergreifenden Konsens zu suchen. Nur dann könne es einen Ausweg aus der Krise geben.

Eindrückliche Warnung vor No Deal

Dennoch: Dass es nun – nach britischer Lesart – zu keinem Brexit ohne Deal kommen soll, sorgt für Erleichterung, vor allem bei den Briten selbst. Welche Folgen der (vom Parlament abgelehnte) No Deal hätte, hatte erst am Mittwochvormittag, 16 Tage vor dem geplanten Austrittstermin, ein 1.477 Seiten starkes Dokument über die zukünftigen Einfuhrzölle deutlich gemacht: Statt wie bisher 100 Prozent wären zukünftig nur noch 82 Prozent der Importe aus der EU zollfrei; Autos (10,6 Prozent Zoll) gehören nicht dazu, was den Preis eines Mittelklassewagens um rund 1.500 Pfund erhöhen würde.

Hingegen sollen auf Autokomponenten keine Abgaben erhoben werden, um die komplizierten Lieferketten der Just-in-time-Produktion nicht zu gefährden. Durch Einfuhrzölle geschützt werden wie bisher Landwirtschaft und Keramikindustrie.

Premierministerin May, die da noch an den Erfolg der eigenen Regierungsvorlage glaubte, wandte sich trotz schwerer Erkältung und Heiserkeit am Vormittag an die Abgeordneten: "Ich mag meine Stimme verloren haben, aber ich höre die Stimmen im Land", sagte sie und warb unverdrossen für ihren "guten Deal" – einen Tag nachdem sie die bereits zweite Abstimmung dazu deutlich verloren hatte. Zu dieser Niederlage trugen nicht zuletzt 75 Tory-Rebellen bei, von denen die meisten dem chaotischen Brexit das Wort reden.

Geschwächte Premierministerin

Wie geschwächt May dasteht, verdeutlichte die Tatsache, dass die Abstimmungen am Mittwochabend auf konservativer Seite nicht dem Fraktionszwang unterlagen. Sehr ungewöhnlich, dieses Vorgehen ist sonst nur bei Voten über Gewissensfragen wie Abtreibung oder Genforschung üblich. Dass May damit nicht mehr erfolgreich war, wird ihre Autorität weiter untergraben. (Sebastian Borger aus London, Gianluca Wallisch, Manuel Escher, 13.3.2019)