Viele Politiker wollen europäische Champions für den globalen Wettbewerb schmieden. Die Struktur der EU-Fusionskontrolle steht dem im Wege. Es ist legitim, über eine Reform nachzudenken.

Illustration: Davor Markovic

Am 6. Februar 2019 hat die Europäische Kommission unter Führung von Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager die Durchführung von zwei bei ihr angemeldeten Zusammenschlüssen untersagt. Dabei ging es zum einen um den Fall Wieland/Aurubis (Walzprodukte) und zum anderen um den Fall Siemens/Alstom (Hochgeschwindigkeitszüge und Signalanlagen).

Die Siemens/Alstom-Entscheidung löste einen politischen Aufschrei in Deutschland und Frankreich aus. Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser twitterte, dass die Kommission vielleicht formal richtig geurteilt, für Europa aber doch alles falsch gemacht hätte. Siemens und Alstom hatten ihr Vorhaben nämlich mit Hinweis auf die zukünftig drohende Konkurrenz durch die chinesischen Staatsunternehmen CRSC und CRRC verteidigt.

CRRC habe als weltgrößter Konzern im Eisenbahn-Infrastruktursektor mit 30 Milliarden Euro einen doppelt so hohen Umsatz wie das fusionierte Unternehmen. Es bedürfe europäischer Champions, damit Europa im globalen Wettbewerb bestehen könne. Dies habe die Kommission nicht hinreichend berücksichtigt.

Anpassung an das 21. Jahrhundert

Die Kommission sah das anders. Entscheidend für sie war, dass Siemens und Alstom mit großem Abstand die Marktführer auf den betroffenen Märkten in der EU sind. Demgegenüber habe CRSC noch nie an einer Ausschreibung für Signalanlagen in Europa teilgenommen, und CRRC habe noch nie einen Hochgeschwindigkeitszug außerhalb von China verkauft.

Das Drohszenario des außereuropäischen Wettbewerbs war für Brüssel nicht konkret genug, um die Bedenken gegen eine drohende Schädigung des Wettbewerbs innerhalb Europas zu zerstreuen.

Wenige Tage nach der Kommissionsentscheidung publizierten der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire ein gemeinsames Manifest zur Anpassung der europäischen Industriepolitik an die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts. Sie forderten darin, die Leitlinien zur Überprüfung von Zusammenschlüssen durch die Kommission zu überarbeiten und/oder dem Europäischen Rat ein Vetorecht gegen Kommissionsentscheidungen in der Fusionskontrolle einzuräumen.

Einhellige Ablehnung durch Kartellrechtsexperten

Die politische Kritik an der Siemens/ Alstom-Entscheidung wird wiederum von der europäischen "Kartellrechtsfamilie" nahezu einhellig abgelehnt. 47 führende Wettbewerbsökonomen stellten sich in einem offenen Brief hinter die Kommission. Ein starkes Europa benötige mehr, nicht weniger Wettbewerb.

Die Präsidenten der französischen und der deutschen Wettbewerbsbehörden warnten unisono vor übereilten Reformen. Zwischen den Zeilen ist in diesen Warnungen der Wunsch zu lesen, den freien Markt vor politischem Einfluss zu schützen.

Wie verhält es sich nun tatsächlich? Wie viel Industriepolitik braucht oder verträgt das Wettbewerbsrecht?

Zunächst muss man sich vor Augen halten, dass es hier um die Fusionskontrolle, nicht um das Kartellrecht in seiner Gesamtheit geht. Es steht außer Frage, dass schwerwiegende Beschränkungen des Wettbewerbs durch Unternehmen, wie etwa Preiskartelle oder Abschottungsstrategien von marktbeherrschenden Unternehmen, nötigenfalls mit harten Sanktionen unterbunden werden sollten. Selbstverständlich ist das nicht. Nicht nur, aber auch in Österreich wurden Kartelle lange Zeit genehmigt, wenn deren nachteilige Auswirkungen auf den Wettbewerb durch ein höherrangiges politisches Ziel aufgewogen wurden, etwa die Sicherheit von Arbeitsplätzen oder der Umweltschutz.

Jahre ohne Fusionskontrolle

Die Fusionskontrolle ist die jüngste Disziplin des EU-Wettbewerbsrechts. Die europäische Fusionskontrollverordnung ist seit 1989 in Kraft, nationale Regelungen in Österreich gibt es seit 1993. Die Europäische Gemeinschaft kam nach ihrer Gründung somit mehr als 30 Jahre und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg fast 50 Jahre gut ohne Fusionskontrolle aus. Schon das zeigt, dass dieser Regulierungsrahmen nicht zu den Grundgesetzen einer freien Marktwirtschaft zählt und dass in diesem Bereich eine Abwägung unterschiedlicher Gemeinwohlinteressen durchaus statthaft ist.

Das österreichische Fusionskontrollrecht sieht das seit jeher vor. Gemäß § 12 Abs 2 Z 2 Kartellgesetz kann ein Zusammenschluss selbst dann genehmigt werden, wenn er zum Entstehen oder zur Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung führt, sofern das Vorhaben zur Erhaltung oder Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Unternehmen notwendig und volkswirtschaftlich gerechtfertigt ist.

Die Regelung wurde seinerzeit in das KartG aufgenommen, um die Bildung von nationalen Champions aus außerwettbewerblichen Gründen zu ermöglichen. Diese liberale Haltung ist auch deswegen vertretbar, weil die Fusionskontrolle der Missbrauchsaufsicht vorgelagert ist. Wenn zwei Unternehmen durch einen Zusammenschluss Marktmacht erlangen, bedeutet das nicht, dass sie ihre Position missbräuchlich ausnützen dürften.

Rechtsstaatliche Prinzip

Der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung kann nach Art 102 AEUV und § 5 KartG selbst dann untersagt werden, wenn die Marktbeherrschung das Resultat einer genehmigten Fusion ist. Das kann bis hin zur Anordnung einer Entflechtung führen. Das praktische Problem besteht darin, dass Missbrauchsverfahren für die Wettbewerbsbehörden notorisch komplex und schwierig zu führen sind. Dazu kommt, dass nicht jedes Verhalten, das schlecht für die Märkte ist, zugleich als missbräuchlich qualifiziert werden kann. Die Fusionskontrolle greift deswegen schon im Vorfeld ein.

Angesichts dessen ist es sicher kein "Tabubruch", eine politische Diskussion darüber zu führen, ob Fusionen nur unter Wettbewerbsaspekten geprüft werden sollten oder ob zudem eine Abwägung mit anderen Politiken wie der Industrie-, der Arbeitsmarkt-, der Umwelt- oder der Medienpolitik (Stichwort: Medienfusionen) stattfinden sollte.

Wichtig dabei ist, das rechtsstaatliche Prinzip nicht aus den Augen zu verlieren, das zu den Fundamenten der EU zählt. Gerade in Zeiten, in denen Populismus modern und der Ruf nach einer "starken Hand" wieder salonfähiger geworden ist, sollte dieses Prinzip sorgsam verteidigt werden.

Es braucht eine Interessensabwägung

Im hier diskutierten Kontext führt das zur grundlegenden Forderung, dass eine Interessensabwägung in der Fusionskontrolle im Rahmen eines geordneten Verfahrens stattfinden sollte, nach transparenten Kriterien und unter der Kontrolle von unabhängigen Gerichten. Gerade darin liegt die Besorgnis, welche die deutsch-französische Initiative zur Reform der Fusionskontrolle bei Kartellrechtsexperten ausgelöst hat.

Es wird befürchtet, dass das heute bestehende System eines rechtsstaatlich geprägten Kartellrechtsvollzugs durch ein System des politischen Opportunismus abgelöst werden könnte, in dem fast zwangsläufig der politisch Stärkere die Oberhand behält. Realistisch muss man sich fragen, ob der Aufschrei gegen das europäische Wettbewerbsrecht gleich groß gewesen wäre, wenn Siemens kein deutsches und Alstom kein französisches Unternehmen wäre. Wohl nein, lautet die Antwort.

Deutsches Vorbild

Fazit: Das Fusionskontrollrecht verträgt eine Abwägung der wettbewerblichen Gesichtspunkte mit anderen politischen Erwägungen, sofern die Entscheidung in einem rechtsstaatlich fundierten Verfahren stattfindet. Ein mögliches Modell, um dieses Ziel zu erreichen, ist – wie anlässlich des Falles Siemens/Alstom bereits vorgeschlagen wurde – das deutsche System der Ministererlaubnis.

Wenn das Bundeskartellamt einen Zusammenschluss in einer rein wettbewerblichen Beurteilung untersagt, können sich die Fusionspartner an den Bundeswirtschaftsminister wenden. Dieser kann das Vorhaben ausnahmsweise erlauben, wenn überragende Allgemeininteressen die nachteiligen Markteffekte überwiegen. Solche Anträge wurden in Deutschland seit der Einführung der Ministererlaubnis 1973 22 Mal gestellt und waren in neun Fällen erfolgreich, darunter zuletzt im vieldiskutierten Fall Edeka/Tengelmann. Dabei unterliegt auch die Ministererlaubnis einer nachprüfenden gerichtlichen Kontrolle.

Getrennte Verfahren, weniger Lobbying

Über die Einführung eines vergleichbaren Systems auf EU-Ebene kann man sicher nachdenken. Wenn die rein wettbewerbliche Überprüfung einerseits und die politische Abwägung andererseits in getrennten Verfahren vor unterschiedlichen Gremien stattfinden, hätte dies für die Wettbewerbsbehörde wohl sogar einen befreienden Effekt. Der Lobbying-Druck, der im Fall Siemens/Alstom sicherlich immens hoch war, nimmt ab.

Wenn Überlegungen für eine Reform des europäischen Wettbewerbsrechts angestellt werden, sollte man aber noch einen Schritt weiter gehen. Die Entscheidung über den Zusammenschluss von Siemens und Alstom wurde nicht von Kommissarin Vestager oder der Generaldirektion Wettbewerb allein getroffen, sondern vom gesamten Kollegium der Kommissare, einem politisch besetzten Gremium. Von einer unabhängigen Wettbewerbsbehörde, die den heutzutage modernen "Best Practices" im Kartellrecht entspricht, ist diese Struktur weit entfernt.

Kein Vetorecht für den Rat

Konsequent wäre es, eine eigenständige Wettbewerbsbehörde außerhalb der Kommission einzurichten, die über die bei ihr angemeldeten oder von ihr aufgegriffenen Fälle zunächst unter rein wettbewerblichen Gesichtspunkten befindet. Ihre Entscheidungen könnten dann in einem gesonderten Verfahren vom Kollegium der Kommissare umgestoßen werden.

Für die Einheit Europas wäre diese Lösung besser als eine Ratserlaubnis, die dem Europäischen Rat ein Vetorecht gegenüber der Kommission einräumt. Letzteres würde nur zu einem Match "Mitgliedstaaten gegen Brüssel" führen, das sich die Union gerade in schwierigen Zeiten nicht aufbürden sollte. (Hanno Wollmann, Wirtschaft & Recht Journal, 21.3.2019)