Theresa May versucht, das Vereinigte Königreich aus dem Brexit-Chaos zu manövrieren – und erleidet dabei einen Rückschlag nach dem anderen.

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Des Lesens mächtige Besucher vom Mars, die es zufällig in Großbritanniens Hauptstadt verschlüge, müssten bei der Lektüre der aktuellen Londoner Medien glauben, die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt, ein Land mit Atomwaffen und einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat, stehe kurz vor dem Untergang.

Eine "gebrochene Premierministerin" (Economist) hat "die Kontrolle verloren" (New Statesman) über die "Agonie" des Brexits (Spectator). "Eine Nation in Limbo", titelt die Financial Times und spielt damit auf jenes Zwischenstadium zwischen Himmel und Hölle an, in dem mittelalterlichen Theologen zufolge ungetauft verstorbene Kinder ihr Dasein fristen.

In einer der zentralisiertest regierten Demokratien der westlichen Welt wird für derlei unbefriedigende Zustände stets die Premierministerin verantwortlich gemacht. Deshalb muss sich Theresa May, 62, auch allerlei Unerfreuliches anhören.

Es sei natürlich nicht Mays Schuld, dass sie "von Schwachköpfen umgeben" ist, ätzt Times-Kolumnist Matt Chorley. "Aber es ist ihre Schuld, dass sie sich täglich von ihnen überlisten lässt." Am Freitag berichtete der Telegraph von Gesprächen einflussreicher Hinterbänkler mit ihrer Parteivorsitzenden: "Die Leute glauben nicht mehr, dass Sie ein Ergebnis abliefern können", soll beispielsweise Nigel Evans gesagt haben. Von Rücktrittsforderungen sei die Rede gewesen.

Ohne Plan erlebten beim EU-Gipfel auch die Kolleginnen und Kollegen die britische Regierungschefin. Diese hatte in einer TV-Rede vor der Reise nach Brüssel die Abgeordneten des Unterhauses für die Brexit-Blockade verantwortlich gemacht.

Kein sonderlich diplomatisches Vorgehen für jemanden, der kommende Woche "leidenschaftlich auf die Zustimmung des Parlaments" zu dem von ihr ausgehandelten Austrittsvertrag samt politischer Erklärung hofft. "Wenn man jemanden überzeugen will, macht man das nicht mit Beleidigungen", maulte ein Brexit-Ultra.

Niederlagen im Unterhaus

Nahtlos schlossen die neuen Rückschläge an die schweren Abstimmungsniederlagen im Parlament an: Zweimal hat das Unterhaus Mays Verhandlungspaket abgelehnt. Dann votierte es gegen ihren Willen dafür, die Möglichkeit eines Chaos-Brexits ("No Deal") dauerhaft auszuschließen.

So blieb der Regierungschefin nichts anderes übrig, als beim EU-Gipfel demütig um Verlängerung der zweijährigen Periode zu bitten, die der Lissabon-Vertrag einem austrittswilligen Mitgliedsstaat einräumt. Ihr bevorzugtes Datum 30. Juni wurde verworfen, nun soll der Brexit entweder im April oder im Mai kommen.

Wie machtlos die Chefin dasteht, demonstrierte das Abstimmungsverhalten von Staatssekretären und Ministern: Dutzende stimmten anders als May. Was in normalen Zeiten die sofortige Entlassung zur Folge hätte, bleibt nun ebenso ungeahndet wie seit Monaten der schreiende Dilettantismus von Kabinettsmitgliedern wie Chris "Failing" Grayling (Verkehr) und Liam Fox (Außenhandel). Ist Theresa May am Ende?

Sexistische Kommentare

Der frühere Tory-Abgeordnete und Times-Kolumnist Matthew Parris hat May als "politisches Schwarzes Loch" abqualifiziert: "Ideen, Vorschläge, Einwände, Projekte, Zuneigung, Vertrauen, ganze Karrieren wirklicher Männer und Frauen werden in die schreckliche Leere der Downing Street eingesaugt." Längst sei nicht mehr nur der Brexit das Problem, sondern die Person der Chefin selbst: Ehe eine Versöhnung von Partei und Land möglich sei, "muss jede Spur ihrer Amtszeit ausgelöscht werden".

Zur Brutalität, mit der auf der Insel generell über politische Kontrahenten geschrieben und gesprochen wird, gesellt sich in den Kommentaren über May häufig ein Schuss Sexismus. In der Ablehnung der sozial unbeholfenen, provinziell wirkenden Premierministerin äußert sich die Geringschätzung weiter Teile des Landes durch die Londoner Politik- und Medienelite.

Menschen aus Taunton, Stafford oder Scarborough haben schnell das Label "little Englander" weg, werden also als kleingeistige, über die Maßen patriotische, allen Fremden misstrauisch gegenüberstehende Empire-Nostalgiker disqualifiziert. Mays stille Pflichterfüllung und Stolz auf die Heimat entspricht der Einstellung von Millionen, deren Stimmen in der Kakophonie von Westminster untergehen.

Umfragen spiegeln die Ambivalenz des Wahlvolkes wider. Dem Umfrageinstitut YouGov zufolge glauben zwar zwei Drittel der Briten, die Amtsinhaberin mache ihren Job schlecht, zehn Prozent mehr als noch im Dezember.

Von Zutrauen in andere Tories, gar in den Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn ist aber keine Rede: Nur 20 Prozent denken, ein anderer Politiker könne einen besseren Brexit-Deal herausholen. "Bei normalen Leuten außerhalb des Politikzirkels ist sie populärer", weiß Andrew Gimson, langjähriger Parlamentskorrespondent. "Denen gilt sie als vernünftig und pflichtbewusst."

Sture Sprachlosigkeit

Durchsetzen aber muss sich die Politikerin eben doch im Parlament. Dort will eine überparteiliche Gruppe kommende Woche die Möglichkeiten für jene "pragmatischen, ehrenvollen Kompromisse" ausloten, von denen May gern redet. Ob sie selbst dann noch in der Downing Street weilen wird, um den längst fälligen Heilungsprozess des Landes einzuleiten?

Zweifel sind angebracht. Tief sitzt bei Freund und Feind der Frust über die sture Sprachlosigkeit, mit der die Regierungschefin allen ernsthaften Gesprächsangeboten der Opposition aus dem Weg gegangen ist. Stattdessen reden viele von Neuwahlen – regulärer Wahltermin wäre erst Mitte 2022.

Oppositionsführer Corbyn fordert sie bei jeder Gelegenheit; zuletzt stellte er ein neues Misstrauensvotum in Aussicht – für den Fall, dass May die Abstimmung über ihr Austrittspaket zum dritten Mal verliert. Ob dann die Brexit-Ultras in einer Kamikaze-Aktion mit der Opposition stimmen und die eigene Regierung zu Fall bringen werden?

Denkbar wäre es. Zwei Argumente sprechen gegen die Neuwahl. Zum einen hat Theresa May erst im Dezember ihrer Fraktion versprochen, sie werde die Partei nicht noch einmal in einen Wahlkampf führen. Aus ihrer Sicht "ist jeder Tag, den sie in der Downing Street verbringt, besser als einer, den sie nicht mehr im Amt ist", glaubt ein Insider.

Angesichts des komplizierten innerparteilichen Wahlverfahrens mitsamt Mitgliederbefragung ließe sich die Neuwahl einer Tory-Parteichefin kaum in weniger als zwei Monaten bewerkstelligen.

Verhandlungsergebnis zerredet

Zum anderen steht aber eine Frage im Raum, die Autor Gimson bündig formuliert: "Was stünde denn zu Europa im konservativen Programm?" Die Wahl zu einem Plebiszit über Mays Deal umzumünzen könnte leicht nach hinten losgehen, zu sehr haben die Torys das beachtliche Verhandlungsergebnis ihrer Premierministerin zerredet.

Schreiben sie sich aber einen harten Brexit, angeführt von einer Symbolfigur wie Ex-Außenminister Boris Johnson, auf die Fahnen, drohen weitere moderate Abgeordnete abzuspringen. Das würde der Partei in der Mitte der Gesellschaft schaden, wo Wahlen im Mehrheitswahlrecht traditionell gewonnen werden.

Einstweilen verharrt die Enkelin eines Hausmädchens und Tochter eines anglikanischen Pfarrers im Amt, eingemauert von jenen, deren Brexit-Forderungen immer radikaler werden, und jenen, die das vor mehr als 1000 Tagen zustande gekommene Ergebnis mit jedem neuen Tag für weniger relevant halten. Das ist Stärke wie Schwäche gleichermaßen: Theresa May bleibt unverrückbar. Vorerst. (Sebastian Borger, 23.3.2019)