Brexit-Befürworter beklagen einen Kontrollverlust bei politischen Entscheidungen.

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Die Befürworter des Brexit streben nach nationaler Souveränität. Für den Ökonomen Raghuram G. Rajan ist klar: Die im Niedergang begriffenen Kommunen brauchen dringend neue Wirtschaftsaktivitäten. Regionalisierung könnte die Welt wohlhabender machen, erklärt er im Gastkommentar.

Großbritannien taumelt auf den Brexit zu. Keiner weiß, was in den nächsten Monaten passieren wird. Doch unterstützt rund ein Drittel der Wähler einen vertragslosen Austritt aus der Europäischen Union, der die Gefahr einer wirtschaftlichen Katastrophe für das Land birgt.

Viele Befürworter dieses "harten" Brexits sind älter, nur mäßig gebildet und leben in wirtschaftlich schwachen semiurbanen Dörfern und Kleinstädten. Obwohl sie besorgt sind wegen der stetigen Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Aussichten, legen Studien nahe, dass der Handel oder die Einwanderung nicht ihre einzigen Anliegen sind. Übel nehmen die Brexit-Anhänger auch ihren Kontrollverlust bei politischen Entscheidungen – an eine weit entfernte nationale Hauptstadt voller gebildeter globaler Eliten und an eine noch weiter entfernte EU.

Nationale Souveränität

Die von der EU vorgeschriebenen Einwanderungsregeln sind nur das offensichtlichste Anzeichen ihrer Machtlosigkeit. Die Brexit-Befürworter stimmten für den EU-Austritt, um "wieder die Kontrolle zu übernehmen". Der Brexit, egal in welcher Form, wird ihnen das Gewünschte wohl nicht geben, was weitere Ressentiments anheizen dürfte. Lässt sich etwas tun, um ihre Wut zu besänftigen?

Die Entmachtung der Kommunen ist kein allein britisches Phänomen. Als sich in den letzten Jahrzehnten die Globalisierung beschleunigte, schlossen die nationalen Regierungen internationale Übereinkommen und völkerrechtliche Verträge ab, die ihre souveräne Macht begrenzten. Zudem gaben sie Befugnisse an internationale Einrichtungen ab. So begrenzt etwa die EU-weite Harmonisierung der Wirtschaftsregeln das regulatorische Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten.

Verschiebung von Macht

Doch selbst angesichts der Verschiebung von Macht (und häufig Finanzkraft) von der lokalen auf die nationale und schließlich die internationale Ebene unterscheiden sich die Auswirkungen der globalisierten Märkte und des technologischen Wandels deutlich. Besonders auffällig ist, dass die Großstädte florieren, während die eher ländlichen Gemeinwesen einen Rückgang von Wirtschaftsaktivität und Chancen erlebten.

Die große Rezession, die 2008 begann, akzentuierte diesen Trend; die Städte erholten sich rasch, während die eher ländlichen Gebiete dahinwelkten. Derart ungleichmäßige Auswirkungen erfordern den örtlichen Bedürfnissen und Umständen angemessene Antworten. Doch diese Antworten zu formulieren ist sehr viel schwieriger, wenn die Kommunen entmachtet wurden.

Dysfunktionale Kommunen

Diese Machtlosigkeit verursacht weitere Kollateralschäden. Wenn in wirtschaftlichen Randgebieten die Chancen schwinden, machen sich Verzweiflung und gesellschaftliche Dysfunktionalität breit. Wer kann, zieht weg. Die Kommunen entwickeln sich dann von einer Quelle des Stolzes und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu einem Reservoir gemeinsamen Kummers, wenn nicht gar der Scham. Und ihre Mitglieder suchen nach alternativen Quellen von Identität und sozialer Solidarität – einschließlich des Nationalismus.

Populistische nationalistische Führer versprechen, ihr Land "wieder groß zu machen", indem sie es von den durch internationale Übereinkommen und Organisationen auferlegten Beschränkungen befreien. Natürlich sind derartige Politiker dann versucht, sich einer weiteren Übertragung dieser Macht und Finanzkraft an die Regionen und Kommunen zu widersetzen. Sie könnten sich weiter auf gefährlichere Weise gegen das internationale System wenden, indem sie ihren Unterstützern eine fortlaufende Parade äußerer Bösewichte präsentieren und diesen die Schuld für ihre Not geben. Ein Weg, der zu nichts Gutem führt.

Balkanisierung der Welt

Natürlich gibt es zahlreiche andere Arten des Nationalismus; viele Brexit-Befürworter wollen, dass Großbritannien für den Handel offen bleibt, aber die Einwanderung deutlich beschränkt. Doch wenn sich das Wachstum verlangsamt und ihre Bevölkerungen altern, brauchen die entwickelten Länder sowohl Exportmärkte als auch eine gewisse Einwanderung. Erstere, um die Nachfrage zu unterstützen, Letztere, um Renten und Gesundheitswesen zu bezahlen. Eine Balkanisierung der Welt durch die Errichtung von Grenzzäunen ist eine sichere Methode, den ungleich verteilten Reichtum von heute in die kollektive Armut von morgen zu verwandeln.

Die Nationalisten haben jedoch recht, dass wir bei der Standardisierung und Harmonisierung der Gesetze und Vorschriften zwischen den einzelnen Ländern zu weit gegangen sind. In einem Zeitalter künstlicher Intelligenz können Unternehmen und Händler doch wohl gewisse nationale Regulierungsunterschiede bewältigen. Wäre es da nicht möglich, gewisse Befugnisse auf die Landesebene zurückzuführen, sofern die Weltmärkte offen bleiben?

Lokales Engagement

Doch Brexit-Befürworter sollten beachten: Die Regionalisierung der Macht wird nicht auf der nationalen Ebene enden – das Murren in Schottland und Wales zeigt es. Die im Niedergang begriffenen Kommunen brauchen dringend neue Wirtschaftsaktivitäten, und ihre Mitglieder müssen, was Globalisierung und technologischen Wandel angeht, anpassungsfähiger werden. Dies erfordert häufig lokales Engagement und örtliche Lösungen – mit Unterstützung der nationalen Regierungen. Die politischen Parteien könnten eine konstruktive Rolle bei der Wiederherstellung der Befugnisse, Finanzkraft und häufig auch Gesundheit vieler Kommunen spielen.

Die Wiederherstellung eines starken Gefühls positiver Gemeinschaftsidentität würde dem feindseligen Nationalismus etwas von seiner Attraktivität nehmen. Menschen, die stärker in der Lage sind, ihre Zukunft selbst zu gestalten, sind nicht so leicht davon überzeugt, dass andere für ihr Leid die Schuld tragen. In dem Maß, in dem sie die Unterstützung für den virulenten Nationalismus schwächt, könnte die Regionalisierung die Welt ein bisschen wohlhabender machen – und sehr viel sicherer. (Raghuram G. Rajan, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 28.3.2019)