Über 400 Videos hat Martin Sellner, Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung, mittlerweile auf Youtube hochgeladen. Doch jenen Monolog, der das Gedankengut der Identitären wohl am deutlichsten illustriert, löschte Sellner schnell wieder selbst: Dabei handelt es sich um eine Rede, die er nach dem islamistischen Terroranschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin vor dem Jahreswechsel 2016 auf 2017 hielt. Video und Transkript liegen dem STANDARD vor, auch "Stoppt die Rechten" und das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes haben darüber berichtet. Der STANDARD hat die Linguistin Ruth Wodak, Mitbegründerin der kritischen Diskursanalyse, gebeten, Sprachbilder und implizite Aussagen in Sellners Monolog zu analysieren.
Wodak: "Ganz prinzipiell herrschen hier zwei Frames vor: Es wird mit Angst Politik betrieben, ein Sündenbock kreiert, dem Schuld für die drohende Katastrophe zugeschrieben wird; dazu kommt dann das Versprechen, dass 'wir euch vor dem Untergang retten'."
Auszug aus Sellners Monolog:
Wodak: "Es muss sich etwas ändern – dieser Satz weist darauf hin, dass eine Gefahr besteht. Zugleich wird auf ein Bedrohungsszenario, eine Dystopie verwiesen; Krise und Terror werden betont. Es wird durch diese Einleitung die Erwartungshaltung geschaffen, dass die erwähnte notwendige Veränderung wie auch die drohende Gefahr im Weiteren näher ausgeführt werden."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "Diese Passage zeigt, dass man angeblich 'zerstören' muss, um etwas zu ändern. Es finden sich typische Kampfbegriffe wie 'Multikulti' und 'multikulturelle Meinungshegemonie'; 'wir' (die Guten) werden den 'anderen' (den Bösen) gegenübergestellt, dadurch die Gesellschaft gespalten."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "Zusätzlich zum allgemeinen Bedrohungsszenario, das Sellner mit seiner Wortwahl und Argumentation erzeugen will, versucht er hier einer vermeintlichen 'Elite' Angst zu machen. Dies ist als Sprechakt der Drohung zu werten."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "In diesem Teil der Rede erkennt man viele Unterstellungen und Schuldzuweisungen, eine Opfer-Täter-Umkehr. Die Angriffe auf die Medien dienen ähnlich wie bei Trump dazu, die seriöse Berichterstattung zu diskreditieren."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "Das ist wiederum eine Warnung und gleichzeitig eine indirekte Drohung. Sellner sagt, dass die Identitären selbst keine Gewalt ausüben werden, kann aber nicht garantieren, dass nicht andere gewalttätig werden; sie können 'uns' auch davor nicht beschützen."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "Hier erinnert die Rede an einen religiösen Diskurs; etwa mit der Warnung, dass das 'Letzte Gericht' ein Urteil fällen wird."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "Hier sind auch Parallelen zum islamistischen Terror zu sehen – etwa dass man 'Opfer bringen' und 'zum Kampf bereit' sein muss, um Europa zu verteidigen und zu retten. Eigentlich ein Widerspruch zur vorher propagierten Gewaltfreiheit, denn woraus soll der 'Kampf' denn bestehen, für den man sein bisheriges Leben aufgeben muss? Liest man den Text genau, so geht es um die Propagierung eines zweifachen 'Austausches' – um den 'Austausch' der derzeitigen 'Multikulti'-Eliten, die 'uns' ansonsten in den Untergang führen; und um den 'Austausch' der Menschen, die 'zu uns kommen' und die deportiert werden sollen."
Aus Sellners Monolog:
Wodak: "Hier werden die vorher erwähnten Fremden als illegal bezeichnet, also als Kriminelle. Dieses Bild passt zu dem neuen Frame, der sich seit der Abkehr von der 'Willkommenskultur' 2016 entwickelt hat. Es zeigt sich auch, dass alle Nichtchristen letztlich nicht 'zu uns, zu Europa' gehören können. Zwar richtet man sich hier explizit gegen den Islam, aber letztlich gehören auch Juden, Hindus, Buddhisten und so weiter nicht zum propagierten weißen, christlichen Europa. Die nicht ausgesprochene, aber implizit vorhandene Message: Es handelt sich um White Supremacy, die Vorherrschaft der Weißen 'Rasse'. Man kann natürlich auch über die Bedeutungen des Begriffs ‚Austausch‘ nachdenken – wer wird mit wem wie ausgetauscht? Wohin werden diese Menschen gebracht, was passiert mit Ihnen? Sellner spricht von einer riesigen Luftbrücke, also einer Militäroperation in Beziehung zum angedachten Kampf. Ein großer Assoziationsraum wird eröffnet, der auch historische intertextuelle Bezüge erlaubt: wie etwa dass im Holocaust Züge zum ‚Austausch‘ (bzw Deportation) von Juden und Roma verwendet wurden. Das wird nicht explizit gemacht, dadurch kann sich der Sprecher jederzeit von solchen Interpretationen distanzieren…. In der Diskursforschung nennen wir solche Vagheiten kalkulierte Ambivalenz." (fsc, 30.3.2019)