Estland ist bekannt dafür, mutige Wege in Sachen Digitalisierung zu gehen. Jede Bürgerin und jeder Bürger verfügt über eine nationale Identitätskarte, auf der die wichtigsten Daten gespeichert sind und die so gut wie alle Behördengänge obsolet macht. Die Geburtsurkunde, die Schulanmeldung, die Parlamentswahl – fast alles kann man in Estland online erledigen. Könnte das bald sogar für Streitschlichtungen mit dem Nachbarn oder Schadenersatzurteile über Blechschäden im Straßenverkehr gelten?

Weniger Staat, mehr KI?

Der 28-jährige Ott Velsberg glaubt daran. Der Student steht seit acht Monaten als Chief Data Officer an der Spitze der Digitalisierungsbemühungen des 1,3-Millionen-Einwohner-Landes. Velsberg ist Anhänger eines möglichst schlanken Staats. Er sagt, dass er jene rund 22 Prozent der Esten, die beim Staat angestellt sind, nicht arbeitslos machen will. Er will sie bei der Arbeit mittels künstlicher Intelligenz unterstützen. So könne man heute viele Prozesse in 13 Bereichen der öffentlichen Verwaltung durch komplexe Algorithmen und Maschinenlernen automatisieren.

Es werden in Estland beispielsweise kaum noch Inspektoren ausgeschickt, die kontrollieren, ob Wiesen korrekt gemäht wurden – eine Voraussetzung für den Bezug von Agrarförderung. Stattdessen werden Satellitenbilder der Europäischen Weltraumagentur automatisch in Computer eingespeist, die sie mit Soll-Bildern abgleichen. Zwei Wochen vor der Deadline erhält der Landwirtschaftsbetrieb eine automatisierte SMS- oder E-Mail-Erinnerung.

Schadenssumme bis 7.000 Euro

In einem sehr ambitionierten Projekt hat sich Velsberg nun die Justiz vorgenommen. Konkret will er durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz Richter entlasten und gemeinsam mit dem Justizministerium ein System entwickeln, das bei kleinen Rechtsstreitigkeiten mit einer Schadenssumme bis zu 7.000 Euro zum Einsatz kommen soll. Ein Pilotprojekt zur Schlichtung von Vertragsstreitigkeiten soll noch in diesem Jahr starten.

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Bekommt Justitia bald schon Unterstützung von einer KI?
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In der Theorie sollen die beiden Verhandlungsseiten relevante Dokumente in ein System einspeisen, das den Streitfall anhand von Präzedenzfällen und Erfahrungswerten von Richtern auswertet und so zu einer Entscheidung kommt. An den Details arbeite man derzeit, und natürlich wird es einiges an "Feintuning" durch Richterinnen, Richter, Anwältinnen und Anwälte brauchen, ist Velsberg überzeugt. Eines sei jedoch klar: Jedes Urteil wäre vor einem menschlichen Richter anfechtbar.

Anti-Strafzettel-Bot

Zugegeben: Die estnischen Bestrebungen klingen noch nach Zukunftsmusik. In einigen US-Staaten schlagen Algorithmen Richterinnen und Richtern aber schon heute ein Strafausmaß vor. In vielen US-Städten und im Vereinigten Königreich übernimmt seit Jahren ein Chatbot die Anfechtung gegen fälschlich vergebene Strafzettel. In Estland wiederum bietet eine Anwaltskanzlei kostenlose Rechtsberatung via Chatbot an, die sogar Dokumente für Behördengänge automatisch produziert.

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Über kurz oder lang werden Algorithmen also die Justiz verändern, sagte der in Stanford lehrende Jus-Professor David Engstrom kürzlich zu "Wired". Auch wenn sie bis auf weiteres wohl eher als unterstützende Maßnahme eingesetzt werden dürften. Engstrom glaubt sogar, dass es die Rechtsprechung fairer und konsistenter machen könnte, obwohl natürlich auch jene, die die Systeme programmieren, nicht frei von Vorurteilen sind. Das gelte es zu berücksichtigen. Die Esten seien durch ihre Erfahrung mit E-Governance jedenfalls offener für derlei Experimente.

Bis auf einige kleinere Zwischenfälle habe es seit Beginn der digitalen Initiative Anfang der 2000er bisher keine größeren Datenschutzprobleme gegeben, heißt es von den estnischen Behörden. Doch Netzaktivisten und Datenschutzexperten stoßen sich immer wieder an Voting-Systemen, die auf künstliche Intelligenz setzen – weil sie öffentlichen Hackingtests (sogenannten Intrusionstests) oft nicht standhalten. Auch diesbezüglich müsste man die geplanten estnischen AI-Richter wohl noch abklopfen. (faso, 2.4.2019)