"Macht ihr eure Hausuafgaben, dann machen wir unsere.": Die "Fridays for Future"-Proteste finden mittlerweile weltweit statt.

Heribert Corn

Auch hartgesottenen Alt-Ideologen gehen beim Anblick so vieler junger Menschen verlässlich Augen und Herz über. Auf allen Kontinenten versammeln sich jeden Freitag hunderttausende Schüler und Studenten, um ihrer Sorge um die Zukunft unseres Heimatplaneten mit Slogans und Transparenten ("Kohle stoppen! Klima retten!") Ausdruck zu verleihen.

Die von der Schwedin Greta Thunberg (16) in Stockholm ausgelösten "Schulstreiks für das Klima" waren ursprünglich das Produkt eines simplen Schreibwettbewerbs zum Thema Umweltpolitik. Thunberg, die Tochter eines Künstlerehepaars, stellt bis heute keine einzige maßlose Forderung. Ihr und ihren Mitstreiterinnen geht es einzig und allein um die Einhaltung der Klimaziele, wie sie im Übereinkommen von Paris formuliert sind. Alle Staaten mit Ausnahme von Syrien sind der Meinung: Die Erderwärmung muss gestoppt werden.

Will man die Bewegung "Fridays for Future" in einen größeren Zusammenhang stellen, so sticht sofort die defensive Ausrichtung der friedlichen Zusammenkünfte ins Auge. "Radikal" möchte man die Rettung der natürlichen Lebensgrundlagen – ob deren gattungspolitischer Relevanz – unbedingt nennen. Doch der Ungehorsam der Schulschwänzer erschöpfte sich bisher eher in der tolldreisten Akkumulation von Fehlstunden.

Die "Postkrisengeneration"

Die empirische Sozialwissenschaft staunt, mit Blick auf unseren Kulturkreis, über den durchwegs konservativen Wertekanon, der für das Gros der Demonstrantinnen ausschlaggebend ist. Die erste "Postkrisengeneration" scheint das Globalisierungsgeschehen vornehmlich als Bedrohung wahrzunehmen. Auf dem Spiel steht nicht nur unser aller Hyperkonsum, der den planetarischen Energiehaushalt strapaziert.

Der Stress, sich ununterbrochen den Anforderungen der sozialen Medien aussetzen zu müssen, weckt umso vehementer Sehnsüchte nach den bewährten Kuschelfaktoren des Zusammenlebens. Gefragt sind bei den studierenden Jugendlichen daher vermeintlich stinknormale Werte, Familie, Partnerschaft, Sicherheit.

Keine Pflastersteine, die von den Schülern aus den Straßen gerissen werden. Niemand, der den "Repressionszusammenhang der kleinbürgerlichen Kleinfamilie" (sic!) aufheben oder wenigstens ein paar mickrige Produktionsmittel vergesellschaften möchte. 2019 gleicht mit keinem Zoll 1968, dem Jahr des Aufruhrs. Und doch muss an die Schlüsselbegriffe der emanzipatorischen Jugend- und Krawallbewegungen lebhaft erinnert werden.

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Ein historisches Begriffslexikon

WELTSCHMERZ

In deutscher Zunge verdankt das jugendliche Sehnen und Wähnen seine gültigsten Formulierungen der Schreibkultur in den evangelischen Pfarrhäusern. Goethe (er war übrigens kein Pfarrerssohn) legte seinem Jugendbestseller Die Leiden des jungen Werthers (1774) die Kategorien einer "neuen" Sensibilität zugrunde. Der junge Mensch steht im Widerspruch zur Gesellschaft und folgt einzig seinem Genius (Geschick). Er verachtet überkommene Werte und fühlt sich Natur, Kunst und Liebe verpflichtet.

STUDENTENLEBEN

Die Generation der "Stürmer und Dränger" erlernte im 18. Jahrhundert ihr Handwerk anhand von Bibelauslegungen. Schulen, vor allem aber Universitäten wurden von den jugendlichen Pfarrerssöhnen als Orte der Geselligkeit erlebt. Aus den intellektuellen Revolten der Zeit vor und um 1800 gingen Freundschaftsbünde hervor: der Göttinger Hain, die "Stürmer" in Straßburg, die Romantiker in Jena etc. Universitäten bildeten Brutstätten des Aufruhrs. Goethe mokierte sich über sie im Faust.

AUFRICHTIGKEIT

Das Gebot der Wahrhaftigkeit entstammt den schon genannten Quellen der protestantischen Religionsausübung vor allem in Deutschland. Aus der unablässigen stillen Befragung des eigenen Gewissens (vor Gott) entsteht der Zwang, sich möglichst schlicht, direkt, aber auch ungeschützt zu äußern. In den aktuellen Debatten um das sprachliche "Gendern" wird das Nachwirken einer Empfindlichkeit spürbar, für die das Gebot der Aufrichtigkeit schwerer wiegt als jede noch so kunstvolle Verstellung.

PROTEST

Im stürmischen Jahr 1968 wurden alle Werte, die das Fundament der Nachkriegsgesellschaft bildeten, rücksichtslos hinterfragt: Autorität, Ordnung, Gehorsam, Pflicht, Leistung, Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Moral. Eine Welt von "Unfreien" sollte in eine befreite Gesellschaft transformiert werden. Ein solcher Anspruch, der sich des Ganzen bemächtigen will, ist den jungen Klimaschützern fremd. Die Vorstellung fällt schwer, dass aus Greta Thunberg ein Rudi Dutschke werden könnte.

SPIESSER

Von den Teilnehmern an Fridays for Future ist kaum ein negatives Wort über die "Alten" zu hören, denen wir den Raubbau am Planeten und die Vernichtung von Ressourcen verdanken. Die Begriffe des "Spießers" wie des "Philisters" bezeichnen Exponenten der Erwachsenenwelt, die jugendlichen Anliegen prinzipiell verständnislos begegnen. Ursprünglich war der Spießer Mitglied der "Scharwache", die das Mütchen der Studenten kühlte. Philister vergingen sich am "auserwählten Volk" (Studenten).

POPKULTUR

Vorbei die Zeiten, als Rock‘n‘Roll-Bands die Protestkultur verlässlich mit Slogans und elektrisch verstärktem Krach versorgten ("Macht kaputt, was euch kaputt macht"). War auch die Punkbewegung (1977) eine Feier des kalkulierten nihilistischen Affronts (und der windigsten Geschäftemacherei), so lässt sich noch dem wütenden Gekeife Johnny Rottens (Sex Pistols) die Sorge um die Zukunft der Menschheit entnehmen: "There is no Future in England‘s Dreaming..." Das eint ihn mit Greta Thunberg. (Ronald Pohl, 5.4.2019)