Max Zirngast: "Die Rettung der türkischen Demokratie kommt sicher nicht von außen, sondern von innen".

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Max Zirngast bei der Entlassung aus dem Gefängnis im Dezember 2018.

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Istanbul/Wien – Der in der Türkei wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation angeklagte österreichische Student und freie Journalist Max Zirngast wird sich am Donnerstag zum ersten Mal in Ankara vor Gericht verantworten müssen. "Die Rechtsunsicherheit hat in der Türkei System", sagte Zirngast im Vorfeld im APA-Interview. Die Justiz in der Türkei sieht er als strukturell politisch beeinflusst.

Man dürfe nicht davon ausgehen, dass sich "jemand ernsthaft damit beschäftigt, ob in sich logisch geschlossen ist, was hier behauptet wird", sagte der freie Journalist, der die Anklage gegen sich zurückweist. Ihm zufolge wurde dafür kein einziger Beweis erbracht.

"Polizei und Staatsanwaltschaft agieren klar nach politischen Linien", erklärte er. "Das Gericht muss sich da zurückhalten und tut das meist auch, außer in einigen sehr offensichtlichen Fällen." Bei ihm sei dies zum Glück nicht eingetreten. "Kein führender türkischer Politiker hat mich jemals öffentlich angesprochen", berichtete Zirngast. Sein Fall sei kein innenpolitisches Thema geworden und innerhalb der Türkei auch kein Druck entstanden, an ihm ein Exempel zu statuieren.

Im Dezember unter Auflagen aus Gefängnis entlassen

Er habe bis zum Prozesstermin "ganz normal" gelebt, erzählte der Student der Politikwissenschaften, der am 24. Dezember aus dem Hochsicherheitsgefängnis Sincan 2 nahe Ankara unter Auflagen entlassen worden war. "Man darf sich von den Umständen nicht fertigmachen lassen, sonst hat diese Form von Repression die Oberhand gewonnen". Dies sei genau das, was bezweckt werde und deshalb gelte es, "ruhig und abgebrüht" zu bleiben und weiterzumachen.

"Es gibt unzählig viele Formen juristischen Traktierens, das besonders gegen Oppositionelle angewendet wird", so Zirngast. "Ich kenne kaum Menschen, die kritisch journalistisch arbeiten oder oppositionell politisch aktiv sind, die nicht zumindest einmal in Polizeigewahrsam waren oder irgendeine Form von Prozess gegen sich laufen haben – zum Beispiel aufgrund einer Presseerklärung oder einer friedlichen Demonstration. Das sei "part of the game".

Prozesse eine "Form von Repression"

Diese Prozesse dauerten oft sehr lange, besonders die mit geringeren Vorwürfen endeten häufig mit einem Freispruch oder einer geringen Geldstrafe, jedoch "dass sie überhaupt eröffnet werden, ist eine Form von Repression", lautet Zirngasts Einschätzung. Außerdem bestehe die Gefahr einer erneuten Inhaftierung jahrelang weiter. "Wenn man einmal in die Mühlen der Justiz hineinkommt, kommt man nicht mehr so leicht heraus", berichtete der Student der Politikwissenschaften.

In seinem Fall erwartet der 30-jährige eine Prozessdauer von etwa zwei Jahren mit drei bis fünf Gerichtsterminen, wie bei derartigen Prozessen üblich. "In letzter Instanz rechne ich mit einem Freispruch", erklärte der Student. Aber es stelle sich die Frage, wo die letzte Instanz sei. "Das kann eben auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof sein", so Zirngast.

Drei Monate Haft

Von der Rechtsunsicherheit seien in der Türkei Millionen Menschen betroffen, berichtete er. "Derzeit gibt es circa 260.000 Inhaftierte, davon werden 44.000 in irgendeiner Form des Terrorismus beschuldigt", so der Aktivist. Angeklagte, die unter gerichtlichen Auflagen auf freien Fuß gesetzt worden seien, seien dabei nicht eingerechnet. Die Zahl jener, deren Anklage auf schwammigen Vorwürfen beruhe, wie jene, die gegen ihn und die türkischen Aktivisten Hatice Göz und Mithatcan Türetken erhoben wurden, sei wahrscheinlich "nicht gering".

Die Kapazitäten der türkischen Gefängnisse reichten oft nicht mehr aus, so Zirngast. Zellen für sieben Personen seien beispielsweise laut Berichten oft mit rund 20 Inhaftierten belegt. Deshalb gebe es eine Erneuerung und einen Ausbau der Gefängnisstrukturen. "Derzeit sind fast 200 Gefängnisse im Bau von denen manche bestehende Einrichtungen ersetzen", sagte der freie Journalist.

Zirngast verbrachte selbst insgesamt drei Monate in Haft. Während dieser Zeit hatte er konsularische Betreuung. Zum Informationsaustausch habe er sich auch nach der Entlassung mit dem österreichischen Konsul getroffen. Dieser werde am 11. April auch zum Prozess kommen.

"Sie beobachten, was passiert", sagte Zirngast über die diplomatische Vertretung, die sich ihm zufolge mit "klaren öffentlichen Statements" zurückhielte. "Das ist Österreichs Linie", erklärte er. "Was im Hintergrund tatsächlich läuft weiß ich nicht". Aufgrund der wenigen Hinweise, die er habe, wolle er sich dazu nicht weiter äußern.

Rettung türkischer Demokratie "sicher nicht von außen"

Eine Gegenbewegung zu der zunehmend autoritären Politik des türkischen Staatspräsidenten Erdogan kann Zirngasts Ansicht nach nur in der Türkei selbst entstehen. "Die Rettung der türkischen Demokratie kommt sicher nicht von außen, sondern von innen", ist der Politikwissenschaftsstudent überzeugt.

Wenn es Entwicklungen zum Positiven gebe, werde sie von den Menschen, Institutionen und Medien im Land getragen, betonte der Aktivist. In Bezug auf die Forderungen der EU-Abgeordneten Otmar Karas (ÖVP) und Eugen Freund (SPÖ) nach Unterstützung der türkischen Zivilgesellschaft nach der formellen Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sagte Zirngast: "Ich weiß nicht, wen sie mit Zivilgesellschaft genau meinen. Aber wenn sie tatsächlich demokratische Initiativen in der Türkei unterstützen, dann kann das durchaus positiv sein."

Es gebe einige europäische Stiftungen, die kritischen Journalismus, Opposition und demokratische Initiativen in und aus der Türkei unterstützen. Dazu zählten zum Beispiel das International Press Institut (IPI) oder die deutschen Rosa-Luxemburg- und Friedrich-Ebert-Stiftungen, so Zirngast.

Die EU-Politik der Türkei gegenüber sieht er aber generell nicht von Bedenken hinsichtlich der dortigen Menschenrechtslage getragen. Wichtiger seien wirtschaftliche Interessen, insbesondere, so der Politikwissenschaftsstudent und Aktivist, durch die "Führungsrolle Deutschlands und die Interessen des europäischen Kapitals".

Beitrittsverhandlungen als Druckmittel

"Ob es eine Zollunion oder eine Mitgliedschaft gibt, oder wie der Beitrittsprozess läuft, hat sehr wenig mit Menschenrechten zu tun", sagte er. Nur wenn es in das Bild passe, würden Menschenrechtsverletzungen – die es immer gebe – ins Zentrum gerückt. EU-Politiker, die konsequent darauf hinwiesen, seien im Allgemeinen die Ausnahme.

In den letzten Jahren habe es mehrere offene Konflikte vor allem zwischen der EU und den USA und dem türkischen Regime gegeben. Die Beitrittsverhandlungen dienten seiner Ansicht nach dabei der EU als Druckmittel. Deren Abbruch Mitte März sei eine Botschaft an den türkischen Präsidenten gewesen, sagte der freie Journalist.

Die Debatte zur Orientierung der Türkei Richtung Westen oder Osten, also hin zu Russland, wird Zirngasts Ansicht nach jedoch "überspitzt geführt". Die Türkei sei militärisch zu stark mit den USA und ökonomisch zu sehr mit der EU verbunden, als dass es zu einer raschen Achsenverschiebung kommen werde.

Dies habe sich auch in der Nacht nach den Kommunalwahlen am 31. März gezeigt. In seiner traditionellen "Balkonrede" habe Erdogan von ökonomischen Reformen und einem freien Markt gesprochen – Zirngast zufolge "also genau das, was das türkische als auch das internationale Kapital hören will". "Das geschah nicht zufällig, sondern weil er weiß, dass die wirtschaftliche Situation der Türkei nicht gut ist", so Zirngast. (APA, 9.4.2019)