Die sudanesische Protestbewegung hat ihre Symbolfigur gefunden: ein Glücksfall für die scheinbar führerlosen hunderttausenden Demonstrantinnen und Demonstranten, die seit Mitte Dezember in vielen Orten des Sudan auf die Straße gegangen sind.

Die weißgekleidete Frau mit den das Licht reflektierenden goldenen runden Ohrringen und einem in die Luft gereckten Zeigefinger, die sich auf einem Autodach stehend über die Menge erhebt, ist zur Ikone geworden. Ihr Bild, aufgenommen von Lana H. Haroun, ist ein Selbstläufer auf Twitter, die "sudanesische Freiheitsstatue" inspiriert eine neue Revolutionsästhetik im Sudan.

Foto: Twitter/Lana H. Haroun

Bisher beißen die Demonstrierenden bei Langzeitherrscher Omar al-Bashir, dessen Abgang sie fordern, auf Granit. Aber der erzwungene Verzicht von Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika in Algerien hat ihnen neuen Auftrieb gegeben. Verschiedentlich wird der "Rassismus" westlicher Medien beklagt, die nicht genügend über die Proteste berichten. Die weiße Frau garantiert zumindest wieder einen Augenblick Aufmerksamkeit. Die Menschen im Sudan geben jedenfalls nicht auf, zuletzt gab es Berichte, dass vereinzelt Militärs auf den Straßen die Seite wechseln.

"Wer ist diese Frau?"

Nach Auftauchen des Bildes wurde erst einmal nach der Identität der Abgebildeten gefahndet: So abgehoben, fast überirdisch ist ihr Anblick im ersten Moment, dass manche an der Existenz einer realen Person zweifelten und an Fotomontage glaubten. Mittlerweile sind aber auch Videos der "weißen Frau" aufgetaucht, und einen – nicht verifizierten – Namen hat sie auch schon: Alaa Salah, 22-jährige Studentin der Ingenieurswissenschaften.

Man weiß auch nicht, ob ihre Aufmachung bewusst kalkuliert oder ein Zufallsprodukt ist: Jedenfalls hat sie den richtigen Nerv getroffen. Die weiße Robe wurde schon im März von Studentinnen der Ahfad-Frauenuniversität bei einer Demonstration getragen, und der ganze Monat wurde daraufhin zum "Weißen März" erklärt. Die weiße Thobe ist im Sudan typisch für berufstätige Frauen, klärt US-Bloggerin Hind Makki, deren Eltern aus dem Land stammen, auf Twitter auf: Man kann auch einen Bezug zum traditionellen sudanesischen Exportprodukt Baumwolle herstellen. Die mondrunden Ohrgehänge aus Gold sind unverzichtbarer Teil der Ausstattung einer Braut.

Die Sprache der Kleider

Schon zuvor tauchte für die sudanesischen Demonstrantinnen, die angeblich die Zahl der Männer auf den Straßen bei weitem übertreffen, der Name "Kandaka" auf, der Titel der historischen nubischen Königinnen. Ihre Aufmachung, schreibt Hind Makki, entspricht dem, was die Frauen auch schon bei den Protesten gegen frühere Regime getragen haben. In der Tat sagen manche Sudanesinnen und Sudanesen, sie fühlten sich beim Anblick der jungen Frau in vergangene Zeiten zurückversetzt. "Ein Meisterkurs in Kleider-Semiotik" vonseiten der Demonstrantinnen, sagt Makki, die sich als "kulturelle Übersetzerin" bezeichnet. Semiotik ist die Lehre von den Zeichen.

Omar al-Bashir ist 1989 durch einen Putsch gegen eine demokratisch gewählte Regierung an die Macht gekommen. Er wollte die Verfassung ändern lassen, um bei den Präsidentschaftswahlen 2020 erneut zu kandidieren. Offiziell hat er erst zwei Amtszeiten, seit 2010, hinter sich. Die Protestbewegung startete nach der Verdreifachung der Brotpreise in der Provinzstadt Atbara, hatte aber von Anfang an politische Ziele. Die Menschen wollen eine grundlegende Veränderung des Systems, einen "neuen Sudan". (Gudrun Harrer, 10.4.2019)