Es ist einsam an der Spitze der ÖVP – und beim Abstieg oder steilen Fall erst recht. Reinhold Mitterlehner ist nicht der Erste, der das erfährt.

Foto: Heribert Corn

Parteischädigend, aber nicht so sehr, dass man Reinhold Mitterlehner deswegen auch aus der ÖVP werfen sollte: Sein Vorvorvorvorvorvorgänger an der Spitze der Volkspartei, Josef Riegler, findet die Vorgangsweise" des unter die politischen Buchautoren gegangenen Ex-ÖVP-Obmanns und Vizekanzlers der vorigen rot-schwarzen Regierung "unmöglich, parteischädigend und illoyal", sagte er am Donnerstag im STANDARD-Gespräch: "Menschlich gegenüber Sebastian Kurz, den ich insgesamt unterstütze, aber auch der Partei und der jetzigen Arbeit gegenüber."

Wenn Strache Nr. 1 wäre

Gefragt, ob das indirekt einen Ruf nach Parteiausschluss impliziere, betonte Riegler aber: "Nein, überhaupt nicht." Reinhold Mitterlehner hätte sich bei seiner publizistischen Abrechnung nur "die Realität zurückholen sollen und sich fragen, wie wir aussehen würden, wenn Strache Nummer eins geworden wäre".

Jetzt ist FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache – dank Kurz, der die türkis umgefärbte Volkspartei wieder ins Kanzleramt geführt hat – als Nummer zwei in der türkis-blauen Regierung, und die "rechtspopulistische" Politik, die dabei herauskommt, stößt jedenfalls Mitterlehner sehr sauer auf. In seinem am Mittwoch präsentierten Buch "Haltung. Flagge zeigen in Leben und Politik" rechnet er nicht nur mit seinem Nachfolger Sebastian Kurz ab, dem er vorwirft, ihn intrigant von der Parteispitze gemobbt zu haben.

Inhaltliche Haltungsnoten

Mitterlehner, der im Mai 2017 zurückgetreten ist, vergibt auch Haltungsnoten für die Neupositionierung der ÖVP und die Arbeit von Türkis-Blau. So warnt er, dass Österreich unter Kurz auf dem Weg in eine "autoritäre Demokratie" sei und Maßnahmen wie die Senkung des Stundenlohns für gemeinnützige Arbeit von Asylwerbern auf 1,50 Euro "mit christlich-sozialen Grundwerten nichts mehr zu tun haben".

Die christlichen Grundwerte seien in der ÖVP schon länger ins Hintertreffen geraten, meint Ex-ÖVP-Chef Erhard Busek: "Das hat viel früher begonnen, daran ist nicht allein Kurz schuld. Das trifft uns alle. Die Christen in der Politik hätten sich mehr engagieren sollen." Mitterlehners Buchaktion sei "menschlich verständlich, im Moment aber nicht sehr nützlich". Allerdings, betont der für eine liberale, an der katholischen Soziallehre orientierte ÖVP stehende Ex-Vizekanzler: "Das Wesentlichere an Mitterlehners Buch ist die inhaltliche Seite."

Altobmänner im Kanzleramt

Allerdings hält Busek Kurz auch da zugute, dass er bei zwei "Altobmännergesprächen" seit Jahresbeginn im Kanzleramt gezeigt habe, "dass er sehr gut zuhört und auch nachdenklich geworden ist, wofür die ÖVP und diese Regierung stehen. Kurz weiß, dass er zunehmend ein Problem hat mit der FPÖ. Er hat zu uns gesagt, er habe rote Linien gezogen, aber das wirke offenkundig nicht", erzählt Busek. Leider habe Mitterlehner bei beiden Treffen gefehlt.

Stimmt, für das erste habe er jedoch gar keine Einladung bekommen, vor dem zweiten Treffen – wieder ohne vorherige Einladung – sei er angerufen worden, ob er eh komme, da habe er sich aber gerade in Israel aufgehalten, sagte Mitterlehner auf STANDARD-Anfrage. Eine weitere Einladung des Generalsekretärs habe er nicht wahrgenommen, auch weil er sich nicht wegen des absehbaren Buchs rechtfertigen habe wollen.

Das Bundeskanzleramt teilte am Donnerstagabend mit, Mitterlehner sei bei beiden Terminen eingeladen gewesen.

In seinem Buch wird der damalige Innenminister und nunmehrige Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka als "Sprengmeister" der großen Koalition bezeichnet. Was an dessen Stelle Reinhold Lopatka zurückweist. Er ist Mitterlehner bekannterweise in eher unherzlicher Verbundenheit verbunden. Ist er mit dem damaligen Parteichef doch als ÖVP-Klubchef im Parlament mehrfach kollidiert, etwa als er bekundete, Norbert Hofer (FPÖ) als Bundespräsident zu wählen. Mitterlehner sah darin eine "Illoyalität". Zum "Sprengmeister"-Vorwurf an Sobotka meint Lopatka, der am Donnerstag als Leiter des OSZE-Wahlbeobachterteams auf dem Sprung nach Nordmazedonien war: "Nach so langer Zeit in einer großen Koalition war das Gemeinsame zwischen ÖVP und SPÖ erschöpft. Es war einfach vorbei. Wer das nicht gespürt hat ... na ja. Da hat's keinen Sprengmeister mehr gebraucht."

Wehrhafte Demokratie

Ebenso wenig hätte es Mitterlehners Buch gebraucht, findet Ex-ÖVP-Generalsekretärin Maria Rauch-Kallat: "Es ist immer schlecht, mit Zorn zurückzublicken, egal in welcher Situation. Noch schlechter ist es, es niederzuschreiben und andere daran teilhaben zu lassen." Sie vermutet als ein Movens für die schriftliche Vergangenheitsbewältigung "gekränkte Eitelkeit". Die Warnung vor dem Abrutschen in eine autoritäre Demokratie hält sie – "auch wenn ich nicht mit allem, was passiert, glücklich bin" – für übertrieben: "Da sind wir Gott sei Dank noch weit davon entfernt. Das wird die österreichische Demokratie auch nicht zulassen." (Lisa Nimmervoll, 19.4.2019)