Rettung in letzter Sekunde. "Die Gefahr ist den Flüchtenden bewusst", sagen die Seenotretter.

foto: sea watch / fabian melber

Tamino Böhm: Einsatzleiter der Flugaufklärung Moonbird, koordiniert die Lufteinsätze von Sea Watch.

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Salzburg – "Wie viele Meilen offshore? Hast du die Italiener informiert, wissen die Behörden Bescheid?" Tamino Böhm stellt seine Fragen am Telefon ruhig und routiniert. Der 27-Jährige ist Einsatzleiter der Flugaufklärung Moonbird der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Watch. Er versucht auch während eines Österreich-Besuchs, seinen Kollegen im Einsatz zu helfen. "Wir haben aktuell vermutlich vier bis fünf Boote mit insgesamt 500 Menschen in Seenot", sagt Böhm zwischen zwei Telefonaten im STANDARD-Gespräch.

Der theoretische Ablauf solcher Aktionen ist schnell erzählt: Mit zwei Flugzeugen wird die Seenotrettungszone vor der etwa 500 Kilometer langen libyschen Küste abgeflogen. Finanziert werden die Flieger durch Spenden – neben anderen spendet auch die evangelische Kirche Deutschlands.

Fiktive Seenotleitstelle in Libyen

Werden nun Flüchtlingsboote in Seenot entdeckt, wird der Seenotfall an die Behörden gemeldet. Diese setzen dann Maßnahmen zur Rettung der Schiffbrüchigen und informieren zivile oder militärische Schiffe, die sich in der Nähe befinden.

In der Realität laufe das aber längst nicht so, sagt der junge Mann aus Lübeck. War früher die Seenotrettungsleitstelle in Rom zuständig, so sei nun Tripolis in Libyen verantwortlich. Nur sei dort oft niemand erreichbar, und es fehle an allem: Strom, Radar, Internet. Mit der in Wahrheit fiktiven Seenotleitstelle Tripolis versuchten Rom und Malta, sich aus der seerechtlichen Verantwortung davonzustehlen, meint Böhm.

"Klar seerechtswidrig"

Vor allem aber versuche die EU, dass die libysche Küstenwache vor den im Mittelmeer patrouillierenden Rettungsschiffen der Nichtregierungsorganisationen die Schlauchboote der Flüchtlinge erreicht, um die Flüchtlinge wieder zurückzubringen. "Das ist klar seerechtswidrig", weil es in Libyen keinen sicheren Hafen gebe.

In Libyen gebe es kein funktionierendes Rechtssystem, auch die Genfer Flüchtlingskonvention gelte nicht. Wenn Seeretter in der Nähe seien, entstehe so "ein Wettrennen um die Menschenrechte", eben weil Organisationen wie Sea-Watch die Menschen in Sicherheit – nach Italien oder Malta – brächten. Deshalb versuche man, die Schiffe der NGOs festzusetzen, sagt Böhm.

"Menschen ersaufen"

Das Rettungsschiff Lifeline beispielsweise wird derzeit in Malta festgehalten. Gegen Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch läuft ein Gerichtsverfahren. Im Fall der unter niederländischer Flagge fahrenden Sea-Watch 3 habe diese Woche aber ein Gericht die Festsetzung aufgehoben. Zuvor hatte die Regierung eine neue Verordnung für Schiffe von NGOs erlassen. Während den Betreibern anderer Schiffe eine Übergangszeit von einem Jahr zur Implementierung neuer Vorschriften gewährt wurde, sollte dies für die Sea-Watch 3 nicht gelten.

"Es wird alles getan, um Menschen nicht zu retten oder nach Libyen zurückzubringen. Dafür nimmt man in Kauf, dass sie ersaufen", lautet Böhms Vorwurf an "den Friedensnobelpreisträger EU". Die Libyer würden oft viel zu spät auslaufen, und dann sei das Unglück schon passiert.

Sechs Tote pro Tag

Laut UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR sind vergangenes Jahr 2275 Menschen im Mittelmeer ertrunken. "Das sind sechs Tote täglich", rechnet Tamino Böhm vor. Und die Route werde immer gefährlicher: 2019 sei bisher auf drei in Europa Angekommene ein Toter gezählt worden.

Den wiederkehrenden Vorwurf, die Helfer würden nur das Geschäft der Schlepper besorgen, lässt Böhm nicht gelten. Die Zustände in Libyen seien untragbar, die Menschen würden es auch ohne NGOs versuchen. Amnesty und andere Gruppen hätten wiederholt über "KZ-ähnliche Zustände" in den Lagern und von Sklavenhandel berichtet. Zudem würde Sea-Watch nach einer Rettungsaktion die Boote der Geflüchteten in Brand stecken und versenken. "Damit sie die Schleuser nicht noch einmal verwenden können." (Thomas Neuhold, 11.5.2019)