Ghana ist eine der Überraschungen auf der Biennale in Venedig.

David Levene

Vor dem französischen Pavillon gab es lange Schlangen: die allseits gehypte Künstlerin Laure Prouvost ist zu Gast.

Giacomo Cosua

Die Arbeit im deutschen Pavillon wird u.a. als Protest gegen die Abschottung Europas gedeutet.

Jasper Kettner

Etwa ein Drittel der Besucher drehte sich einfach um. Als Kulturminister Gernot Blümel Donnerstagnachmittag in den Giardini von Venedig das Mikro ergriff, um den österreichischen Pavillon zu eröffnen, zeigten ihm viele Anwesenden die kalte Schulter. Statt auf Blümel und Renate Bertlmanns riesigen Schriftzug "Amo ergo sum" zu blicken, den die Künstlerin an dem Josef-Hoffmann-Pavillon anbringen ließ, blinzelte die Kunstmeute demonstrativ in die Sonne. Am Morgen hatte es noch geregnet, jetzt verdunkelte der Flashmob die Stimmung.

Die Länderpavillons und die Politik – das sind zwei Kontrahenten, die ohne einander nicht zu denken sind. Ende des 19. Jahrhunderts als Großausstellung der internationalen Künste gegründet, entwickelte sich die Biennale in den Folgejahrzehnten zu einem Wettkampf von Länderpavillons. Nationalstaatliche Gegensätze sind an ihnen genauso abzulesen wie repräsentative Vereinnahmungen oder bewusste Infragestellungen. Letztere verkamen in den vergangenen Jahrzehnten allerdings zunehmend zum Klischee. Die Behauptung, Länderpavillons seien anachronistische Symbole des Nationalismus, gehört zur Biennale wie die Schlangen vor den Pavillons.

Unüberblickbare 90 Länderrepräsentationen gibt es mittlerweile über ganz Venedig verstreut, viele von ihnen werden diesmal von Frauen bespielt. Im Fall von Österreich passiert dies – man schüttelt innerlich immer noch den Kopf – zum ersten Mal in einem Solo, weshalb sich Minister Blümel artig bei dessen SP-Vorgänger Thomas Drozda bedankte, der das ermöglicht hatte.

Große politische Schlagworte

Die Freude über das erste Mal ist eine der Konstanten auf jeder Biennale. Auch Avantgarde-Großmeister Stanislav Kolíbal ist sie bei der Eröffnung des tschechisch-slowakischen Pavillons ins 93-jährige Gesicht geschrieben. Dreimal wurde seine Teilnahme von staatlicher Seite abgelehnt, mithilfe des österreichischen Museumsberaters Dieter Bogner hat sie jetzt endlich geklappt. Dass dem Altmeister mit einer Kombination aus seinen legendären, wunderbar ausbalancierten Marmorskulpturen und neuen Wandreliefs auch noch einer der stimmigsten Beiträge gelungen ist, scheint wie eine viel zu späte Genugtuung zu sein.

Noch vor einem weiteren Altmeister kann man sich nur verbeugen: Mit seinen perfekt gearbeiteten Großskulpturen bespielt der 77-jährige Afroamerikaner Martin Puryear den US-Pavillon mit leichter Hand. Anders als die formalistischen Materialstudien Kolíbals erzählen seine Leiterwagen-, Elch- oder Phrygiermützenskulpturen von Themen wie Sklaverei und Unterdrückung und fügen sich damit perfekt in eine Kunstlandschaft ein, in der die großen politischen Schlagworte der Gegenwart zumindest gestreift werden müssen.

Aber wofür wäre diese künstlerische Leistungsschau sonst da: Ob Klimawandel (im Nordischen Pavillon), Erinnerungsarbeit (Dänemark, Großbritannien), Minderheitenpolitik (Kanada zeigt Inuit-Filme) oder aktueller Rechtsruck: Vielen Beiträgen geht es genauso sehr um eine vieldeutige Überhöhung wie um eine ideologische Engführung aktueller Problemlagen.

Deutsche Gewissensberuhigung

Ein gutes Beispiel dafür ist der Beitrag Deutschlands, der aus einer riesigen Staumauer im zentralen Raum des von den Nazis 1938 umgestalteten Monumentalpavillons besteht. Daraus zieht sich die Spur eines dreckigen Rinnsals. Im ersten Raum lehnt eine Werbetafel für Tomaten, im letzten zirpt es aus Lautsprechern. Als "eindeutige politische Stellungnahme zu Migration und Abschottung" wurde der Beitrag von Natascha Süder Happelmann gelobt, weil er das Schicksal von Migranten auf südeuropäischen Tomatenfeldern thematisiere: Man könnte den Beitrag aber auch als Art Gewissensberuhigung werten, nur ja auf der korrekten Seite zu stehen.

Deutlich verspielter und gewitzter ist das Schweizer Künstlerinnenduo Pauline Boudry und Renate Lorenz, die in einem Tanzfilm Rückwärtsbewegungen als Formen des Widerstands gegen reaktionäre Kräfte der Abschottung propagieren. So einflussreich kann Kunst also sein: Die österreichischen Biennale-Besucher ließen sich bei der Blümel-Rede davon prompt inspirieren.

Polit-Aktivismus am Hafenbecken

Doch damit nicht genug an Polit-Aktionismus: Auch das Wrack jenes Fischerbootes, das 2015 völlig überfüllt im Mittelmeer sank und mehr als 700 Menschen den Tod brachte, hat es auf Betreiben des Schweizer Künstlers Christoph Büchel nach Venedig geschafft. Zwar nicht in einen der Länderpavillons, aber ganz in der Nähe in das Hafenbecken des Arsenale. Büchels moralischen Fingerzeig hätte es allerdings nicht gebraucht: Von der Türkei, in deren Beitrag Inci Eviner einen Parcours der Geflüchteten zeigt, bis hin zu Luxemburg, wo Marco Godinho eine Odyssee über die Weltmeere künstlerisch verdichtet, ist das Thema allgegenwärtig.

Mit dem Goldenen Löwen für den besten Beitrag wurde Samstagmittag Litauens Pavillon ausgezeichnet. Die Opern-Performance "Sun & Sea (Marina)" auf einem künstlichen Strand übt Kritik am Lebensstil des vielen Reisens, Konsums und Arbeitens. Sie geht auf die Zerbrechlichkeit der Welt, den Klimawandel und das Artensterben ein.

Ghana überrascht bei Premiere

Überraschungssieger dieser Biennale ist aber Ghana. Beraten vom unlängst verstorbenen Kurator Okwui Enwezor, bespielen anlässlich des ersten Auftritts des westafrikanischen Landes in Venedig sechs Künstler von Lehmmauern begrenzte elliptische Räume. Starkünstler El Anatsui ist mit einer Installation aus gepressten Flaschendeckeln und Kupferdraht dabei, ebenso Documenta-Künstler Ibrahim Mahama. Langsam scheint sich nicht nur bei der Großausstellung im Arsenale und den Giardini, sondern auch bei den Länderpavillons der eurozentristische Blick zu verschieben.

Goldene Löwen für Arthur Jafa und Jimmie Durham

Der Goldene Löwe für den besten Künstler ging an den US-amerikanischen Filmemacher und Kameramann Arthur Jafa für sein Video "The White Album", mit dem er das hochaktuelle Thema Rassismus aufgreift und unter anderem Hass-Videos aus dem Internet zeigt.

Bereits zuvor war bekanntgegeben worden, dass der US-amerikanische Konzeptkünstler, Autor und Aktivist Jimmie Durham den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk bekommt.

Und sonst? Erregte die allseits gehypte Künstlerin Laure Prouvost die Gemüter. Weniger allerdings ob ihres surrealen Filmbeitrags im französischen Pavillon, der eine Reise von Paris nach Venedig als Trip ins Unbewusste nachzeichnet, sondern wegen der Endlosschlange vor dem Eingang. Bis zu zweieinhalb Stunden stand manch einer an. Andere kehrten dem Beitrag einfach den Rücken. Das – zeigt die Biennale – ist auch ein Statement. (Stephan Hilpold, 11.5.2019)