John Lundvik singt für Schweden und zählt zu den Topfavoriten.

Foto: EBU/Thomas Hanses

Pænda singt heute um den Finaleinzug in einem starken Line-up. So schwach das erste Semifinale war, so viel besser wird das zweite.

Gleich mehrere Favoriten tummeln sich in diesem Semifinale, allen voran die Niederlande, Schweden und Russland, aber auch Aserbaidschan und die Schweiz haben Chancen auf einem Platz ganz weit vorn.

1. Armenien: Srbuk – "Walking Out"

Die Sängerin aus Jerewan lernte am Konservatorium nicht nur Gesang, sondern auch das Instrument Kanun zu spielen. Bei der armenische Version von "X-Factor" wurde sie 2010 Zweite, bei "The Voice of Ukraine" 2018 Vierte. Der solide Popsong, den sie darbietet, ist stimmlich stark, kompositorisch aber vermutlich zu wenig überraschend, um ganz vorne zu landen, auch wenn sie in der Inszenierung alles verballern, was man verballern kann. Tipp: eher raus

2. Irland: Sarah McTernan – "22"

2018 versuchte sie bei einer Art Online-Vorausscheidung für San Marino anzutreten, schaffte es aber mit dem Song "Eye of the Storm" nicht. Nun darf sie ihr Heimatland vertreten. Das erfolgreichste Land der ESC-Geschichte hatte bis 2018 viele Jahre eine Durststrecke, 2018 schaffte man mit Ryan O'Shaugnessys "Together" endlich wieder das Finale. 2019 wird es nicht aufwärts gehen. "22" plätschert völlig belanglos dahin. Da helfen auch die poppigen LED-Effekte und die Milchbar auf der Bühne nicht. Tipp: raus

3. Moldau: Anna Odobescu – "Stay"

Ganze 35 Mal komponierte der Grieche Georgios Kalpakidis bereits Songs für diverse Vorausscheidungen in Europa. Mit seinem 36. Versuch schafft er es endlich, und zwar mit der Sängerin Anna Odobescu, die eine klassische Musikausbildung genoss. Sie kopiert die Performance der Ukraine 2011 und engagierte dieselbe Sandmalerin, Kseniya Simonova von der Krim, für den Background. Der schaut man lieber zu, als sich den langweiligen Song der Moldawierin im Hochzeitskleid anzuhören. Tipp: raus

4. Schweiz: Luca Hänni – "She Got Me"

Von allen Beiträgen der deutschsprachigen Länder hat heuer die Schweiz wohl die beste Chance auf einen Spitzenplatz. In Deutschland und Österreich ist er vor allem als Sieger der Casting-Show "Deutschland sucht den Superstar" bekannt. Der junge Schweizer war damals der erste nichtdeutsche Gewinner. Seine Performance ist schlicht perfekt. Er kann sich bewegen, er macht Spaß, und die Cinemascope-Effekte sind richtig gut. Der Song ist sicher etwas berechnend komponiert worden, aber wenn's funktioniert und zündet, dann kann das sehr weit vorn landen. Tipp: weiter

Luca Hänni mit "She Got Me" für die Schweiz.
Foto: EBU/Thomas Hanses

5. Lettland: Carousel – "That Night"

Die Sängerin Sabīne Žuga und der Gitarrist Mārcis Vasiļevskis gründeten erst vor kurzem die Indieband Carousel und konnten sogleich die lettische Vorausscheidung gewinnen. Der Kontrabass und das Intro auf der Klampfe versprechen viel, wovon dann aber kaum etwas eingelöst wird. Tipp: raus

6. Rumänien: Ester Peony – "On a Sunday"

Ester Peony ist im kanadischen Montreal aufgewachsen und begann ihre Gesangskarriere auf Youtube. Eine rumänische Plattenfirma nahm sie unter Vertrag, und mittlerweile residiert sie wieder in ihrer Geburtsstadt Bukarest. Sie schreibt ihre Musik überwiegend selbst, und auch an "On a Sunday" hat sie mitgearbeitet. Der Song entwickelt sich mit dem schleichenden Beat sehr gut, ihre Stimme ist aber wohl nicht jedermanns Sache und die Inszenierung nach dem Motto: da Feuer, da Tänzer, da Einblendungen. Warum? Wurscht. Tipp: Wackelkandidatin, eher weiter

7. Dänemark: Leonora – "Love is Forever"

Ihre Karriere startete Leonora als Eiskunstläuferin. Nunmehr versucht sie eine Karriere als Sängerin und gewann sogleich die dänische Vorausscheidung mit diesem, sagen wir mal, Kinderlied mit einigen mehrsprachigen Passagen. Man muss schon Kinderlieder mögen, um dafür anzurufen. Aber vielleicht schunkelt sich das ja ins Finale, denn traditionell kommt der Song, den ich am allerwenigsten mag, immer weiter. Brrr. Oder mochten Sie etwa "Lemon Tree"? Tipp: raus

8. Schweden: John Lundvik – "Too Late for Love"

John Hassam Lundvik lebte in seiner frühen Kindheit bei seinen Adoptiveltern in Großbritannien, mit ihnen zog er als Siebenjähriger nach Schweden. Er wurde in seiner Heimat vor allem durch den Song "When You Tell the World You're Mine" bekannt, den er für Kronprinzessin Victoria und Prinz Daniel von Schweden komponierte. Lundvik ist als Komponist gleich zweimal am Start, denn er schrieb auch den britischen Beitrag. Schweden ist immer Favorit, dieses Jahr auch zu Recht. Die enorm glaubwürdige und starke Gospel-Pop-Performance wird viele Stimmen sammeln. Nicht nur heute. Davon darf man getrost ausgehen. Tipp: weiter

John Lundvik mit "Too Late for Love" für Schweden.
Foto: EBU/Thomas Hanses

9. Österreich: Pænda – "Limits"

Es war mutig, einen derart unberechenbaren Beitrag zu schicken, eine Songwriterin, Produzentin und Sängerin, die alles selber macht. Der Song ist sehr intim, introvertiert und zerbrechlich. Pænda schafft es, auf der Bühne ihre Gefühle zu zeigen. Das Staging kommt ganz ohne LED-Wand aus, dafür funkelt es wunderschön. Sie kam als Außenseiterin, die Chancen sind aber gut, denn sie weiß zu berühren, sofern man bereit ist, sich auf diese Art von Musik einzulassen. Tipp: weiter

10. Kroatien: Roko – "The Dream"

Roko Blažević wurde 2001 in Split geboren. Zuerst bekannt wurde er in Castingshows, sein Durchbruch gelang ihm aber erst jetzt mit dem Sieg in der kroatischen Vorausscheidung Dora. Bekannter ist sein Mentor und Komponist, Jacques Houdek. Er nahm 2017 in Kiew mit "My Friend" teil und erreichte dort den 13. Platz. "The Dream" ist eine Kitschorgie der schlimmsten Sorte. Spannen Sie sich goldene Engelsflügerl um und genießen Sie diese Over-the-Top-Inszenierung. Tipp: Wackelkandidat, den der Trashfaktor retten könnte

11. Malta: Michela – "Chameleon"

Der Komponist von Cesár Sampsons "Nobody But You", der Bulgare Borislav Milanov von den Symphonix, ist in diesem Semifinale gleich mit zwei Songs im Rennen. Dem maltesischen Beitrag werden insgesamt geringere Chancen auf einen Gesamtsieg am Samstag eingeräumt, aber der Finaleinzug sollte mit diesem gefälligen, teenager-tauglichen Popsong drin sein. Michela Pace gewann "X-Factor Malta" und qualifizierte sich so als die maltesische Teilnehmerin. Sie singt recht gefällig, ihre Bühnenpräsenz ist aber etwas durchwachsen. Malta macht seit 1971 mit, konnte aber noch nie gewinnen. Tipp: weiter

12. Litauen: Jurij Veklenko – "Run with the Lions"

Jurij ist ebenfalls Casting-Show-erprobt und war für die Backing Vocals bei einigen Song-Contest-Performances verantwortlich. Er kennt den Zirkus beim Eurovision Song Contest also schon. Im Brotberuf ist er IT-Spezialist, und wir hoffen für ihn, dass er seine Stelle nicht für den ESC gekündigt hat, denn er wird wohl wieder zu diesem Job zurückkehren müssen. Er sang in den Proben nahezu immer neben den Tönen. Tipp: raus

13. Russland: Sergej Lazarev – "Scream"

Zusammen mit den Niederlanden ist er der Favorit heute Abend. Sergej hätte 2016 bereits fast gewonnen, hätte die Ukrainerin Jamala nicht das Jury-Voting für sich entscheiden können. In vielen Ländern Osteuropas und Asiens ist er schon seit seiner Kindheit als Teil der Boygroup Smash!! ein Superstar. 2005 verkaufte sich sein Debütalbum 300.000-mal. Lazarev kehrt 2019 mit einer Powerballade zurück, die alles auspackt, was man nur auspacken kann. Große Gesten, Drama, bombastische Inszenierung mit mehreren Sergejs gleichzeitig (aber dafür gut versteckten Backgroundsängern) und sich immer weiter steigernd und steigernd und steigernd und steigernd. Authentisch? Entscheiden Sie. Tipp: weiter

Sergej Lazarev mit "Scream" für Russland.
Foto: EBU/Andres Puttnig

14. Albanien: Jonida Maliqi –"Ktheju Tokës"

"Kehre ins Land zurück" ist nur eine Hilfsübersetzung des Titels, der kaum übersetzbar und ein zutiefst albanisches Lebensgefühl, nämlich die Rückkehr nach Migration, beschreibt. Maliqi gewann erst beim zehnten Anlauf das traditionsreiche Festivali i Këngës, das erst seit 2003 die offizielle Vorausscheidung wurde. Das erste Mal nahm sie 1995 als Zwölfjährige teil. Jonida singt sich leidenschaftlich die Seele aus dem Leib. Tipp: Wackelkandidatin, eher weiter

15. Norwegen: KEiiNO – "Spirit in the Sky"

Joik ist der Name für die kehligen Gesänge aus Lappland, und Fred Buljo, der Glatzkopf des Trios, der nach langer Zeit wieder die samische Sprache auf eine ESC-Bühne holt, beherrscht diese Technik eindrucksvoll. Verpackt ist dieser Part aber in einem Song, der wirkt, als hätte ein Artificial-Intelligence-Programm den Befehl bekommen, einen perfekten Song-Contest-Song zu kreieren. Ein bisschen Pop, ein bisschen Schlager, ein bisschen Folklore, eine Frau, zwei Männer, fertig ist die Reißbrettnummer. Tipp: trotzdem leider weiter

16. Niederlande: Duncan Laurence – "Arcade"

Der Favorit. Nicht nur heute, sondern auch am Samstag für das ganze Ding. Duncan hat sich bereits früh mit Musik beschäftigt und hat es an der Rock Academy von der Pieke auf gelernt. Dort hat er auch gelernt, dass persönliche Geschichten die besten Chancen haben, das Publikum zu erreichen. "Arcade" ist so eine Geschichte, und zwar über den zu frühen Verlust eines geliebten Menschen. Er verrät nicht, um wen es sich handelt, will so wohl auch dem Publikum Raum für Projektion ermöglichen. Es war eine mutige Entscheidung, ihn nur ans Klavier zu setzen und auf jede weitere Inszenierung zu verzichten. Genau das packt total. Er fängt die Zuschauer beim ersten Ton. Ganz, ganz groß! Tipp: weiter

Duncan Laurence mit "Arcade" für die Niederlande.
Foto: EBU/Thomas Hanses

17. Nordmazedonien: Tamara Todevska – "Proud"

Tamara Todevska war bereits 2008 als Teil eines Trios beim Eurovision Song Contest dabei, erreichte damals aber ganz knapp das Finale nicht. 2019 versucht sie es jetzt neuerlich als Solokünstlerin mit einer Empowerment-Message. Leider hat man sie in ein unmögliches Kleid gesteckt und die schöne Botschaft des Songs erfolgreich versteckt. Schade drum, das hätte mit einer anderen Inszenierung was werden können. Tipp: raus

18. Aserbaidschan: Chingiz – "Truth"

Chingiz Mustafayev aus Baku erlangte Bekanntheit in seinem Land als Gewinner von diversen Castingshows. Er hat in seinem Land bereits mehrere Songs veröffentlicht und verschiedene musikalische Projekte gestartet. Er kombiniert in seinem musikalischen Œuvre recht geschickt Latinorhythmen mit aserbaidschanischem Ethno und zeitgemäßem Pop. Dies hier ist allerdings der zweite Song vom bulgarischen Komponisten Borislav Milanov – und sein deutlich besserer. "Truth" könnte der Radiohit des diesjährigen Contests werden. Einfach eine fantastische Nummer. Zudem gewann er hier in Tel Aviv die Herzen der Fans. Chingiz kann. Tipp: weiter

Chingiz mit "Truth" für Aserbaidschan.
Foto: EBU/Thomas Hanses

(Marco Schreuder, 16.5.2019)