Fast zwölf Stunden lang werden auch jene, die Heinz-Christian Strache für die größten Huren hält, am Samstag, den 18. Mai 2019 am Wiener Ballhausplatz hingehalten: Gegen elf Uhr Vormittag treffen die ersten Journalisten zwischen Kanzleramt und Hofburg ein. Die Fernsehstationen bauen ihre Geräte auf. Schaulustige Touristen lassen sich die Staatskrise erklären. Auch interessierte Bürger fragen nach und warten mit. Immer wieder fahren Polizeiwagen, aber auch Fiaker durch die Kulisse. Einer der vorbeifahrenden Kutscher schreit: "Die Lumpen sitzen da drinnen!" Gelächter.

Schaulustige Touristen lassen sich am Samstagvormittag die Staatskrise erklären.
Foto: heribert corn

"Da drinnen" wird der bisherige Vizekanzler und FPÖ-Chef gerade zu Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zitiert. Ihr Gesprächsthema: Ibizagate. Schon vor zwei Jahren hat Strache, damals Oppositionschef, auf der Insel seine Politkarriere beendet – ohne es zu wissen: Der "Süddeutschen Zeitung" und dem "Spiegel" waren Videos zugespielt worden, die Strache und seinen Klubchef Johann Gudenus im Sommer 2017 in einer Villa zeigen.

"Der schönste Tag der Zweiten Republik!"

Auf den Bändern stellt Strache einer vermeintlichen, zahlungswilligen Oligarchin aus Russland in Aussicht, ihr staatliche Bauaufträge zuzuschanzen, sollte die FPÖ in die Regierung kommen. Auch Spenden an die FPÖ seien möglich, allerdings sollten diese über einen "gemeinnützigen Verein" abgewickelt werden, damit der Rechnungshof nichts davon mitbekommt. Und: Die reiche Russin solle doch die "Kronen Zeitung" unter Kontrolle bringen und so die FPÖ zur Nationalratswahl "pushen". Das ginge ganz leicht – schließlich seien Journalisten ohnehin "die größten Huren des Planeten".

Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus stolpern über ein Ibiza-Video.
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Was Kurz von alldem hält, wird er der Öffentlichkeit bis in die Abendstunden nicht mitteilen. Dafür ist für 12 Uhr eine Pressekonferenz von Strache in seinem Büro ums Eck am Minoritenplatz angesetzt. Auch dort sammeln sich Schaulustige, darunter eine Schulklasse auf Wien-Woche. Die Schüler wollen den Noch-Vizekanzler sehen. Ein Passant ruft den wohl bald wahlberechtigten jungen Leuten zu: "Das ist der schönste Tag der Zweiten Republik!"

"Katastrophal und ausgesprochen peinlich"

Strache sieht das anders. Im Vizekanzleramt erklärt er zu Mittag, flankiert von blauen Regierungsmitgliedern, er sei Opfer einer "Schmutzkübel- und Desinformations-Kampagne" geworden, "die an Perfidie und auch an Niederträchtigkeit nicht zu übertreffen ist". Mit illegalen Mitteln und Methoden sei versucht worden, "Gudenus und mich zu Straftaten zu Statements zu verleiten, die strafrechtlich bedenklich sein könnten". Durch ausgewählte Ausschnitte, die aus dem Gesamtkontext gerissen seien, sollten er und Gudenus "gezielt beschädigt" werden. Reue hört sich anders an.

Das mehr als sechsstündige Gespräch mit dem russischen Lockvogel ist für Strache eine "b'soffne G'schichte".
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Das mehr als sechsstündige Gespräch mit dem russischen Lockvogel ist für Strache eine "b'soffne G'schichte". In der Finca sei er verleitet worden "auch unreflektiert und mit lockerer Zunge über alles und jedes zu polemisieren. Und ja, meine Äußerungen waren nüchtern gesehen katastrophal und ausgesprochen peinlich." Das sei "ein typisch alkoholbedingtes Macho-Gehabe" gewesen, "mit dem ich, ja, wahrscheinlich auch die attraktive Gastgeberin beeindrucken wollte und ich habe mich prahlerisch wie ein Teenager verhalten und auch peinlich übersteigert agiert". Alle, die er damit in Misskredit gebracht habe, bitte er um Entschuldigung – vor allem aber seine Frau Philippa. An dieser Stelle treten Strache Tränen in die Augen.

Jungsozis versagt die Technik

Fazit: Im Gespräch mit Kurz habe er seinen Rücktritt angeboten – um Schaden von seiner Familie, seiner Partei, seinem Amt abzuwenden. Zehn Minuten lange Rede, kurzer Sinn: Hiermit ist Strache als Vizekanzler Geschichte, ebenso legt er seine Funktionen in der FPÖ zurück. Was mit der türkis-blaue Koalition ist, bleibt unklar. An seine Stelle soll Vizeparteichef Norbert Hofer treten.

Auf dem Ballhausplatz forderten die Demonstranten den Rücktritt der Regierung
DER STANDARD

Am Ballhausplatz hat inzwischen viel Polizei Stellung aufgenommen. Den Jungsozis, die dort mit Lautsprechern auf einem kleinen Bus versuchten, Straches Rede für alle zu übertragen, versagt leider die Technik. Inzwischen sind die kleinen Grüppchen zu einer großen Menge angeschwollen. Als klar wird, dass zwar auch Gudenus weg ist, aber Infrastrukturminister Hofer die blauen Regierungsgeschicke übernehmen soll, erheben sich erste Rufe Richtung Kanzleramt. Ein Mann beginnt mit "Oaschlecha! Oaschlecha!". Wenig später skandieren die meisten "Neuwahlen! Neuwahlen!"

"We're going to Ibiza"

Den Journalisten wird bedeutet, sich in einem Korridor zwischen Menge und dem Tor des Kanzleramts zu begeben. Denn die Polizisten errichten nun Absperrungen, um die wütenden, aber friedlich protestierenden Menschen vor Ort etwas auf Distanz zu halten. In dem schmalen Streifen, dem der Medienpulk bleibt, machen hässliche Gerüchte die Runde, was Strache in den Videos noch alles gesagt hat, aber bisher nicht veröffentlicht wurde.

Die Menge schaukelt sich immer wieder neu auf: Mit Trillerkonzerten, dann schallt es aus Boxen wieder "We're going to Ibiza" von den Vengaboys. Auch der Rest der Republik muss zu diesem Zeitpunkt immer noch auf eine Entscheidung warten: Wird Kurz mit den übrigen freiheitlichen Ministern weiterregieren – oder kündigt er die Koalition auf?

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Um 17 Uhr gibt es endlich einen Termin für den Auftritt des Kanzlers, er lautet: 19:45 Uhr. Der Menschenknäuel, aus dem vereinzelt rote, grüne, pinke, weiße und regenbogenfarbene Fahnen schwenken, skandiert jetzt auch: "Nazis raus!" und "Kurz muss weg!"

Die FPÖ "kann es nicht"

Um 19 Uhr ist Einlass für die Journalisten. Im Steinsaal geht dann nach peniblen Sicherheitskontrollen alles sehr schnell: "Genug ist genug", sagt der Kanzler, der schon vor genau zwei Jahren Neuwahlen ausgerufen hat. Er wirkt weder gestresst, noch abgekämpft von den letzten Stunden. Im Gegenteil – er geißelt die von Strache im Video geäußerten Ideen des Machtmissbrauchs, findet aber auch die heimliche Aufzeichnung "verachtenswert", die ihn an die Methoden des ehemaligen SPÖ-Beraters Tal Silberstein im letzten Nationalratswahlkampf erinnern.

Das komplette Statement von Bundeskanzler Kurz im Video
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Dazu verteidigt Kurz seine Entscheidung, mit der FPÖ eine Koalition geschmiedet zu haben. Für inhaltliche Erfolge musste er aber in den letzten eineinhalb Jahren "vieles aushalten – vom Rattengedicht, über die Nähe zu Rechtsradikalen und immer wiederkehrenden Einzelfällen". Auch wenn er sich nicht immer geäußert habe, sei es ihm "schwergefallen, das runter zu schlucken". Angesichts des Videos spricht Kurz der FPÖ schlussendlich die Regierungsfähigkeit ab: "Sie kann es nicht."

Kurz schon im Wahlkampf

Gleichzeitig hält er aber auch fest: Die SPÖ teile seine inhaltliche Ausrichtung nicht und die kleinen Parteien seien zu klein. Deswegen habe er sich nicht für einen fliegenden Wechsel, sondern für Neuwahlen entschieden. Fragen sind nach dem Auftritt keine zugelassen. Kurz geht ab – als Kanzler im Wahlkampf.

Im Anschluss wird der Medientross mit Polizeieskorte auf Umwegen über mehrere Höfe, aber oberirdisch rund um den Ballhausplatz wohlgemerkt, vorbei an der Menge zum Bundespräsidenten geschleust.

Die Rücktritte der beiden FPÖ-Politiker seien erst der Anfang gewesen, es bedürfe jetzt "einer schonungslosen Aufklärung durch unsere Exekutive und unsere Justiz", sagt Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
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Die Worte von Alexander Van der Bellen in der Hofburg sind dann deutlich: "Die Bilder, die uns seit gestern erreichen, zeigen ein verstörendes Sittenbild", sagt er. Strache und Gudenus hätten darin "dreiste Respektlosigkeit" den Bürgern gegenüber gezeigt. "Diese Respektlosigkeit toleriere ich nicht." Das Vertrauen in die Regierung sei erschüttert.

"In diesem Sinne", folgert der Präsident, "habe ich mit Bundeskanzler Kurz vorgezogene Wahlen in Österreich besprochen und werde morgen die weiteren Schritte mit ihm vereinbaren. Die Rücktritte der beiden FPÖ-Politiker seien erst der Anfang gewesen, es bedürfe jetzt "einer schonungslosen Aufklärung durch unsere Exekutive und unsere Justiz".

Bundespräsident Van der Bellen im Video
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Nun gelte es, das Vertrauen in die Regierung wiederherzustellen. Am Sonntag um 11 Uhr besprechen Van der Bellen und Kurz das weitere Vorgehen.

Ein Letztes war dem Staatsoberhaupt noch ein Anliegen: "Ich möchte auch auf die wesentliche, auf die zentrale Rolle hinweisen, die unabhängiger Journalismus in einer liberalen Demokratie spielt. Die sogenannte vierte Macht hat in diesem Fall ihre Verantwortung voll wahrgenommen." Wenn auch von Deutschland aus. (Sebastian Fellner, Nina Weißensteiner, 18.5.2019)