Othmar Karas wirbt darum, dass sich die Proeuropäer nicht von den Kräften der rechten und linken Extreme die politische Tagesordnung diktieren lassen.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Er ist der bekannteste EU-Politiker Österreichs, er ist auch derjenige, dem in Umfragen am ehesten zugetraut wird, die Interessen der Österreicher erfolgreich im EU-Parlament zu vertreten. Aber er ist nicht unumstritten, nicht einmal in der eigenen Partei stehen alle hinter Othmar Karas – es gibt einen Vorzugsstimmenwahlkampf jeder gegen jeden.

Karas kennt das. Er hat bereits 2009, als die ÖVP ihm den später unrühmlich ausgeschiedenen Ernst Strasser vor die Nase gesetzt hat, Vorzugsstimmen gesammelt – und 112.954 davon bekommen. Fünf Jahre später, bei seinem vierten Antreten, war er dann erstmals Spitzenkandidat der ÖVP, er sammelte dennoch 82.514 Vorzugsstimmen. Und nun? Karas führt einen sehr persönlichen Wahlkampf – als Präsident des Hilfswerks besucht er Sozialeinrichtungen, er trifft Vertreter der Zivilgesellschaft und spricht Bürger auf der Straße an. Er gilt als guter Zuhörer. Aber in seinem Element ist er, wenn er über Europapolitik spricht, dann ist sein Redefluss kaum zu stoppen.

STANDARD: Die Europawahl bekommt in der Woche vor der Wahl viel weniger Aufmerksamkeit als das Video aus Ibiza oder die Entwicklungen in Wien. Das kann Ihnen wohl nicht gelegen kommen?

Karas: Es ist verständlich, dass ein derartiges Video eine politische Debatte mit Konsequenzen auslöst. Es zeigt das, was mir an den Rechtspopulisten in Europa immer wieder aufstößt und wovor ich immer wieder gewarnt habe: die Verniedlichung Russlands, die finanziellen Querverbindungen, die russische Einflussnahme, die es über diese Querverbindungen gibt, die Verletzung von Recht, von Werten und der Pressefreiheit. Gerade dieses Video macht also deutlich sichtbar, dass die Wahl am Sonntag eine Richtungsentscheidung ist – für Stabilität, für Anstand, für Geradlinigkeit ...

STANDARD: Aber für die meisten Wahlberechtigten steht ja doch die angekündigte Nationalratswahl im Vordergrund.

Karas: Ein derartiger Skandal regt die Leute zu Recht auf. Aber es ist mein Bemühen, mich nicht mittels des Skandal zu profilieren – so wie ich mich auch nicht mittels der Ängste und Sorgen der Menschen profilieren will. Die Menschen spüren, dass es hier um Anstand geht, dass es um Stabilität geht, dass es um Ehrlichkeit geht. Darum werbe ich dafür, dass alle Pro-Europäer, die sich nicht von den Extremisten rechts und links die Tagesordnung diktieren lassen wollen, aufstehen und wählen gehen. Es geht um das Gesicht Österreichs in Europa.

STANDARD: Das werden jene verstehen, die ohnehin entschlossen sind, wählen zu gehen. Aber verstehen es auch die, denen die EU-Wahl schon bisher egal war?

Karas: Man sollte die Menschen nicht unterschätzen. Ich habe viele Gespräche und öffentliche Debatten geführt, in denen ich schon den Eindruck gewonnen habe, dass die Menschen ein gutes Sensorium dafür haben, worum es geht – und dass sie verstehen, warum wir die Europaparlamentswahl zu unserer Wahl machen wollen.

STANDARD: Dennoch überlagert die Innenpolitik derzeit die Europapolitik.

Karas: Europapolitik ist Innenpolitik: Es gibt keine europäische Entscheidung, bei der nicht die Regierungen der Mitgliedsstaaten und das Europaparlament mit dabei sind. Die Probleme, die zu Hause diskutiert werden, sind dieselben, die in Europa diskutiert werden: Innenpolitisch muss ein Reformkurs fortgesetzt werden, der die Arbeit im Steuersystem entlastet – damit wir mehr Spielräume haben für Forschung, Investitionen und den Kampf gegen den Klimawandel. Das schafft Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze. Innenpolitisch wie auch europapolitisch sind Investitionen in die Forschung der Schlüssel zu den Arbeitsplätzen von morgen. Die globalen Megatrends heißen: technologische Entwicklung, Stichworte künstliche Intelligenz, Biotechnologie, Digitalisierung. Zweitens demografischer Wandel und drittens Klimawandel – auch das hängt mit Forschung und Bildung zusammen. Der vierte Megatrend, mit dem wir uns beschäftigen, ist die Verlagerung politischer Machtzentren vom Westen nach Asien. Das sind globale Herausforderungen, bei denen wir als Europa nur dann gestaltend eingreifen können, wenn wir gemeinsam europäisch handeln. Was jetzt noch dazukommt, angesichts der Drohung Donald Trumps, den Iran auszulöschen: die Verhinderung eines Atomkriegs.

STANDARD: Bei unserem ersten Treffen in den 1970er-Jahren, da waren Sie gerade am Anfang Ihrer politischen Karriere in der Jungen ÖVP und engagiert in der Friedensbewegung, haben wir genau über das Thema Verhinderung eines Atomkriegs diskutiert. Ist es nicht frustrierend, dass die Menschheit in 40 Jahren nicht weitergekommen ist?

Karas: Die Erkenntnis, dass die Themen immer wieder kommen, darf uns nicht mutlos machen. Politik heißt, sich ständig mit Herausforderungen auseinanderzusetzen. Und es gibt ja doch vieles, das in dieser Zeit gelungen ist: 70 Jahre Friede; der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs; eine Europäische Union, die sich von sechs auf 28 Staaten weiterentwickelt hat; ein europaweiter Binnenmarkt, der für uns zum Heimatmarkt geworden ist; eine gemeinsame Währung. Manches holt uns wieder ein – aber die Fortschritte in Europa sind nicht wegzudiskutieren. Doch nichts davon ist eine Selbstverständlichkeit. Die europäische Idee ist am meisten herausgefordert durch die Veränderungen von außen.

STANDARD: Bleiben wir bei der militärischen Komponente: Österreich hat vor 20 Jahren, als die Möglichkeit angeboten wurde, den Nato-Beitritt ausgeschlagen. Die EU ist ja sicherheitspolitisch kein Ersatz dafür – müsste jetzt nicht wenigstens europaweit nachgerüstet werden?

Karas: Das Wichtigste ist die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU. Wichtig ist, dass wir wieder die Technologieführerschaft gewinnen. Da geht es um Technologien gegen den Klimawandel, darum, uns bei der Digitalisierung nicht von China überholen zu lassen. Und Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, hat die Vision entwickelt, eine massive europäische Forschungsinitiative zum Kampf gegen Krebs zu starten, um den Krebs in Europa auszurotten.

STANDARD: Ich habe nicht nach dem Kampf gegen den Krebs gefragt, sondern nach der militärischen Kampfkraft.

Karas: Die neuen Sicherheitsbedrohungen sind nicht nur militärisch zu beantworten – Stichwort Cyberangriffe. Aber die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch in der Beschaffung militärischer Güter, ist heute weiter als vor zehn Jahren. Österreich hat sich klar zum Aufbau der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bekannt – und nimmt daran teil. Das gemeinsame Beschaffungswesen schafft Unabhängigkeit von Rüstungskonzernen außerhalb Europas. Die Nato hat eine wichtige Aufgabe, aber Europa muss von den USA unabhängiger werden. Wir sollten ehrlich sein und sagen, dass die Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik einen Schub braucht – es gibt Bereiche, in denen Europa auch ohne Nato handlungsfähig sein muss. Wir wollen vom Entscheidungsprozess in der Nato nicht abhängig sein. Dieses Bewusstsein hat sich seit dem Bürgerkrieg auf dem Balkan durchgesetzt.

STANDARD: Wenn Sie an das Ende der nächsten Wahlperiode denken – was soll in fünf Jahren erreicht werden?

Karas: Ich möchte den Vorschlag von Bundeskanzler Sebastian Kurz aufgreifen, sich eine Vertragsreform in der Europäischen Union zuzutrauen. Man muss alle Möglichkeiten des derzeitigen Vertrages voll ausnützen – und dann die Grenzen dieses Vertrags auflisten, zeigen, wo die Entscheidungsmechanismen ineffizient sind. Stichworte: Einstimmigkeitsprinzip, Schutz der Außengrenzen, Außen- und Sicherheitspolitik, Beseitigung von Steueroasen, Koordination der Flüchtlingspolitik. Im dritten Schritt sollten in allen Gemeinden Europas Bürgerforen die Möglichkeit bieten, Ideen für die Zukunft Europas zu sammeln. Die Ergebnisse könnten dann in einen Reformvertrag einfließen, über den bei der nächsten Europaparlamentswahl 2024 mit einer Zweitstimme abgestimmt werden soll. (Conrad Seidl, 22.5.2019)