Die Brexit Party hat die Europawahl in Großbritannien wohl klar gewonnen. Das erst wenige Monate alte Vehikel des früheren Ukip-Chefs Nigel Farage erhielt bei der Europawahl in Großbritanniens mindestens 28 Mandate bzw. 31,6 Prozent der Stimmen, geht aus in der Nacht auf Montag von der BBC veröffentlichten Ergebnissen hervor. Das sind gleich viel Sitze wie die Lega des italienischen Vizepremiers Matteo Salvini und fünf mehr als die CDU der deutschen Kanzlerin Angela Merkel.

Die Zahl könnte noch steigen, weil noch neun Mandate in Schottland und Nordirland zu vergeben waren. Vor fünf Jahren hatte Farages EU-feindliche Ukip bei 27,4 Prozent gelegen und 24 Abgeordnete nach Brüssel entsandt.

Die konservative Regierungspartei stürzte auf voraussichtlich neun Prozent ab (minus 15) und erzielte ihr schlechtestes landesweites Ergebnis seit mehr als 100 Jahren. Der Wahlgang war überhaupt nötig geworden, weil die Regierung der zurückgetretenen Premierministerin Theresa May nicht wie versprochen den 2016 beschlossenen Brexit in die Tat umgesetzt hatte. May hatte am Tag nach der Europawahl ihren Rücktritt in Aussicht gestellt, nachdem sie das Scheitern ihrer Brexit-Strategie eingestehen musste.

Die größte Oppositionspartei, die Labour Party (14 Prozent, minus acht), musste sich mit Platz drei hinter den wiedererstarkten Liberaldemokraten (20 Prozent, plus 14) begnügen. Die Grünen erzielten zwölf Prozent und verwiesen damit die Torys (neun Prozent) auf Platz fünf.

Auch in London gab es eine Sensation: Im Heimatbezirk des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, sogar in seinem eigenen Wahlkreis Islington, liegt Labour mit 24 Prozent (minus 13) hinter den Lib Dems auf Platz zwei.

SNP in Schottland klar vorne

In Schottland konnte die Brexit Party (16) auf Anhieb Platz zwei hinter der Nationalpartei SNP (39) von Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon erreichen. Labour (11) stürzte auf Platz fünf ab, hinter Konservativen und Liberaldemokraten mit jeweils zwölf Prozent.

Nigel Farage zeigt den Brexiteers, wo es langgeht.
Foto: Imago / Ray Tang

Vom Abschneiden der klar proeuropäischen Parteien – zu ihnen zählen neben Liberaldemokraten und Grünen auch die schottischen und walisischen Nationalisten sowie die neue Gruppierung Change UK – und der Wahlbeteiligung hängt die Interpretation des Ergebnisses ab. Farage (55) wollte seinen sensationellen Sieg als Plebiszit für den chaotischen Austritt ("No Deal") interpretieren und damit das Unterhaus unter Druck setzen. Europawahlen wurden auf der Insel nie recht ernstgenommen, beim letzten Mal bemühten sich lediglich 34,2 Prozent der Briten an die Urne (Nordirland wird separat berechnet). Diesmal meldeten eine Reihe von tendenziell proeuropäischen Wahlkreisen Quoten von bis zu 40 Prozent.

No-Deal-Brexit wahrscheinlicher

Das erst in der Nacht zum Montag offiziell verkündete Ergebnis dürfte nach dem Sieg der Brexit Party den Drang zu einem No Deal verstärken. Viele der Bewerber um die Tory-Krone scheinen sich diese wichtigste, ja einzige Forderung von Farages Gruppierung ohnehin zu eigen zu machen. Acht erklärte Kandidatinnen und Kandidaten gibt es bisher, mindestens vier weitere dürften noch hinzukommen. Und begeisterte Brexiteers wie Esther McVey, Dominic Raab oder Andrea Leadsom haben wiederholt, was der klare Favorit im Rennen, Boris Johnson, als Parole vorgegeben hatte.

Boris Johnson scharrt schon in den Startlöchern, um Theresa May zu beerben.
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Großbritannien müsse, teilte Johnson mit, zum bereits zweimal verschobenen Termin Ende Oktober unbedingt aus dem Brüsseler Klub ausscheiden, ob mit oder ohne Vereinbarung: "Einen guten Deal erhält man, indem man sich auf den No Deal vorbereitet. Wenn man etwas erreichen will, muss man dazu bereit sein, den Verhandlungstisch zu verlassen." Hingegen nannte Entwicklungshilfeminister Rory Stewart den möglichen No-Deal-Brexit einen "Riesenfehler, schädlich und unehrlich: Sobald wir ausscheiden, müssen wir ohnehin wieder verhandeln."

Solche direkten oder indirekten Angriffe dürften sich bis zu den fraktionsinternen Abstimmungen häufen. Die "Hatz auf Boris" zielt darauf ab, den gelernten Journalisten mit dem blonden Wuschelkopf als unehrlich, wenig fleißig, impulsiv darzustellen. Beispielsweise konterte Johnson besorgte Einwände von Wirtschaftsvertretern gegen die Brexit-Politik der May-Regierung kurzerhand mit "Fuck Business".

Johnsons Lager hüllte sich am Wochenende in Schweigen, während die Konkurrenten sich als "wirtschaftsfreundlich" (Außenminister Jeremy Hunt), "interessiert an Details" (Ex-Brexitminister Dominic Raab) oder "Mann mit Urteilsvermögen" (Umweltressortchef Michael Gove) rühmen ließen – allesamt kleine Spitzen gegen den Liebling von Buchmachern und Parteibasis. Johnson muss zudem eine Erfahrung britischer Politik fürchten: Seit mehr als 50 Jahren gewann bei allen Kämpfen um den Tory-Parteivorsitz am Ende nie der ursprünglich Führende. (Sebastian Borger aus London, 26.5.2019)