Es ist ein Drahtseilakt, und dann noch einer in letzter Minute. Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan telefonierte am Mittwoch mit seinem US-Amtskollegen Donald Trump. Man wolle sich nun beim G20-Treffen in Japan zusammensetzen und über den heiklen Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 diskutieren. Präsidentensprecher Fahrettin Altun sagte, Erdoğan habe nochmals seinen Vorschlag wiederholt, doch eine Arbeitsgruppe zum S-400-System einzurichten.

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Ein S-400-Raketensystem, hier in Russland.
Foto: REUTERS/Tatyana Maleyeva

Das Geschäft über das Waffensystem schwebt seit Monaten wie ein Damoklesschwert über den Beziehungen zwischen beiden Staaten. Im Extremfall könnte es sogar über die Zukunft der Türkei im Militärbündnis Nato entscheiden.

Ankara hat sich zum Kauf des russischen Produkts entschieden. Es ist um etwa eine Milliarde günstiger als das amerikanische Konkurrenzprodukt Patriot. Experten befürchten, dass russische Militärs so Einblick in sensible Daten anderer Nato-Waffensysteme bekommen könnten. Washington will den Deal mit Moskau deswegen unbedingt verhindern. Sollte das Geschäft zustande kommen, droht man, Ankara aus den Lieferketten des F35-Kampfjets zu werfen. Außerdem – und das dürfte Ankara weitaus schlimmer treffen – ist von Wirtschaftssanktionen die Rede.

Drohung aus Washington

Eine Sprecherin des State Department, Morgan Ortagus, sprach von "sehr realen und sehr schweren Konsequenzen". Was das bedeuten könnte, bekam Ankara bereits vor einem Jahr zu spüren. Damals stritt man sich um einen inhaftierten amerikanischen Pastor, dessen Auslieferung Washington forderte. Als sich die türkische Regierung weigerte, verhängte Trump via Twitter Strafzölle auf türkische Stahl- und Aluminiumexporteure.

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Der türkische Staatschef handelt sich Ärger ein.
Foto: REUTERS/Goran Tomasevic/File Photo

Wesentlich schlimmer aber war der psychologische Effekt: Die türkische Lira stürzte ab und verlor innerhalb weniger Wochen rund 40 Prozent ihres Werts. Unter den Nachwirkungen leidet die türkische Wirtschaft bis heute: In der Folge verteuerten sich die Importe, was wiederum die Inflation anheizte. In der jetzigen Stimmung aber ist eine erneute Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation das Letzte, was Erdoğan brauchen kann. Am 23. Juni findet in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, die die AKP am 31. März knapp verloren hatte.

Von dem Geschäft jetzt noch zurückzutreten ist schwierig. Moskau pocht auf eine Umsetzung des Deals. Außerdem käme das einem Gesichtsverlust Erdoğans gleich. Eine Möglichkeit bestünde höchstens noch darin, das Waffensystem an ein befreundetes Land wie Aserbaidschan oder Katar weiterzuverkaufen. Das Pentagon soll Ankara ein Ultimatum gestellt haben, das in der ersten Juni-Woche ausläuft. Die Uhr also tickt, und Erdoğans Einsatz ist hoch. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 30.5.2019)