So mancher deutsche Sozialdemokrat hätte sich gerne einen ruhigen Sonntag gegönnt. Schließlich hatte Andrea Nahles nach dem 15,8-Prozent-Debakel bei der EU-Wahl für Dienstag, 4. Juni, überraschend Neuwahlen an der Fraktionsspitze angesetzt, man konnte also turbulenten Tagen entgegensehen.

Jede Menge Kritik hatte Nahles in den vergangenen Wochen einstecken müssen; sie wollte die Machtprobe, um die Zügel wieder in die Hand zu bekommen. Viele ahnten: Wenn sie an diesem Dienstag nicht wiedergewählt wird, dann legt sie auch gleich den Parteivorsitz nieder.

Doch dann gab es am Sonntag um kurz vor 10 Uhr eine noch viel größere Überraschung. Per E-Mail informierte die 48-Jährige die SPD-Mitglieder, dass sie nun doch die Wahl in der Fraktion gar nicht mehr abwarten wolle, sondern bereits entschieden habe, sowohl den Fraktions- als auch den Parteivorsitz zurückzulegen. Auch ihr Bundestagsmandat will sie nicht behalten.

Laut dem Spiegel-Journalist Veit Medick hat Nahles diese Nachricht an ihre Parteikollegen geschickt.

"Ob ich die nötige Unterstützung habe, wurde in den letzten Wochen wiederholt öffentlich in Zweifel gezogen. Deshalb wollte ich Klarheit. Diese Klarheit habe ich in dieser Woche bekommen", schreibt sie, und die Verbitterung ist deutlich herauszulesen. Sie konstatiert auch, "dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist".

Viel Kritik nach EU-Wahl

In den Gremiensitzungen nach der EU-Wahl und der Landtagswahl in Bremen war Nahles richtiggehend abgewatscht worden, und die harschen Worte ("Alle können es besser als sie") hatten natürlich ihren Weg in die Medien gefunden. Außerdem wurden Gerüchte gestreut, es werde Gegenkandidaten in der Fraktion geben. Offen sein Antreten ankündigen wollte dann aber auch niemand.

Den schlechten Stil beklagte am Sonntag der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), via Twitter: "Liebe Andrea Nahles! Der öffentliche Umgang mit Dir war schändlich. Einige in der SPD sollten sich schämen. Du hast Dich nach Kräften bemüht, manche Wunde der Vergangenheit endlich zu heilen. Danke für Deinen Einsatz! Respekt für diese Entscheidung."

Juso-Chef Kevin Kühnert, der Nahles mit seinem Anti-Groko-Kurs inhaltlich schwer zugesetzt hatte, sagte: "Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben. Ich schäme mich dafür."

Nahles und Merkel im März 2019.
Foto: APA/AFP

Nahles hatte die Partei – als erste Frau in der mehr als 150-jährigen Geschichte – im April 2018 übernommen und versprochen, sie zu erneuern. "Es wird uns gelingen. Gemeinsam sind wir stark, wir packen das!", hatte sie den Delegierten zugerufen.

Doch dass der Weg ein schwieriger werden würde, war damals schon klar. Zum einen, weil die Vorstellungen der Genossen sehr weit auseinandergehen. Ein Teil will die Partei in der Mitte halten, ein anderer sie weiter nach links rücken. Zum anderen ist die SPD natürlich an den Koalitionsvertrag mit der Union (CDU/CSU) gebunden, diese schaut mit Argusaugen, ob die SPD bei ihren Forderungen auch nicht davon abweicht.

Dreyer führt SPD – aber nur kommissarisch

Bis die SPD nun einen neuen Chef oder eine neue Chefin bekommt, wird es eine Zeit dauern, zunächst muss ein Parteitag einberufen werden. Kommissarisch soll wohl Malu Dreyer die Partei führen. Sie ist Vizechefin der Bundes-SPD und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Dreyer gilt als integrativ und anerkannt. Ambitionen auf einen Job in Berlin hat sie aber immer mit Verweis auf ihre Multiple-Sklerose-Erkrankung zurückgewiesen. Finanzminister Olaf Scholz hat am Sonntagabend die Übernahme des Parteivorsitzes für sich ausgeschlossen. Dies wäre zusammen mit seinem Amt als Finanzminister zeitlich nicht zu schaffen, sagte Scholz in der ARD-Talksendung "Anne Will". Das gelte sowohl für den kommissarischen Parteivorsitz als auch für die dauerhafte Nachfolge der scheidenden Parteichefin Andrea Nahles.

Nahles macht als SPD-Chefin einen Abgang.
Foto: Imago Images / Emmanuele Contini

Ein Mann des Übergangs wäre der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Im Gespräch sind auch die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, und Arbeitsminister Hubertus Heil, der zuletzt mit seinem Konzept für eine Grundrente für Einkommensschwache punktete.

Die SPD-Spitze wird ihre Beratungen am Montag fortsetzen. "Wir werden die Entscheidung nicht übers Knie brechen", sagte Dreyer. Denn: "Die Partei ist in einer extrem ernsten Lage." Wenn es jetzt nicht gelinge, solidarisch einen Weg herauszufinden, dann "sieht es wirklich schwarz aus für die SPD". (Birgit Baumann aus Berlin, 2.6.2019)