Andrea Nahles musste sich als SPD-Chefin permanent mit unzufriedenen Genossinnen und Genossen auseinandersetzen.

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Nicht einmal mehr bis zur Fraktionssitzung am Dienstag wollte Andrea Nahles warten. Dabei hatte sie selbst für diesen Tag die vorzeitige Wahl und damit die Machtprobe angekündigt. Doch es ist bereits aus und vorbei, ihr Rücktritt platzte vorzeitig in die sonntägliche Ruhe, und erinnert in seiner Hektik und Dramatik an den Beginn ihrer Amtszeit im April 2018.

Angeblich wohnt ja jedem Anfang ein Zauber inne. Für Andrea Nahles galt das allerdings nicht. Als sie vor gut einem Jahr an die Spitze der SPD kam – als erste Frau in der mehr als 150-jährigen Geschichte – da standen die Sterne schon nicht gut. Nahles hatte den Vorsitz von Martin Schulz übernommen, die Partei lag nach ihrem Umfaller (keine Regierungsbeteiligung, dann wieder doch) ziemlich am Boden.

Und Nahles bekam nur magere 66,35 Prozent, ihre Gegenkandidatin, die linke Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, räumte höchst respektable 27,6 Prozent ab. Für Nahles war das der Vorgeschmack auf ihre Amtszeit: Sie würde sich permanent mit unzufriedenen Genossinnen und Genossen auseinandersetzen müssen – und genau so kam es auch.

Katastrophale Wahlverluste

Die einen verlangen einen Kurs der Mitte, die anderen wollen die SPD viel weiter nach links rücken, zuletzt machte das Juso-Chef Kevin Kühnert mit sozialistischen Enteignungsphantasien deutlich. Auch bei den Wahlen ging es stetig nur bergab: Bei der bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober sackte die SPD auf unter zehn Prozent und landete weit hinter den Grünen. In Hessen wurde sie von ihnen eingeholt, der Machtwechsel gelang nicht, immer noch regiert dort CDU-Mann Volker Bouffier.

Die jüngsten Katastrophen taten besonders weh: In Bremen war die SPD zum ersten Mal seit 73 Jahren nicht mehr stärkste Kraft, die EU-Wahl war ein einziges Desaster: Platz Drei hinter Union und Grünen.

Natürlich trifft Nahles an der miserablen Lage nicht die alleinige Schuld. Die gesamte Partei scheint irgendwie aus der Zeit gefallen. Schon im Bundestagswahlkampf 2017 konnte Schulz mit dem Gerechtigkeitsthema und "seinem" Dachdecker, der nicht so lange malochen sollte, nicht so an wie erhofft. Viele Menschen in Deutschland fühlen sich entweder nicht ungerecht behandelt – oder sie glauben nicht, dass die SPD daran etwas ändern könnte.

Nur kurzzeitige Erholung

Zwar gab es zwischenzeitlich eine leichte Verbesserung in den Umfragen, als Nahles im Frühjahr einige Maßnahmen der Schröderschen Sozialreformen abräumte. Aber bald ging es wieder abwärts, denn die Aktion hatte ja auch eine Kehrseite: Sie zeigte, dass die Partei 15 Jahre nach Schröders Einschnitten immer noch darunter leidet und um den richtigen Umgang ringt.

Außerdem sind die großen Themen derzeit weniger Gerechtigkeit und Solidarität, sondern Klimaschutz. Jede Menge ehemalige SPD-Wählerinnen und Wähler fühlen sich bei den Grünen besser aufgehoben, zumal die Ökopartei ja auch Sozialpolitik betreibt. Und sie hat das bessere Spitzenpersonal. Während Robert Habeck und Annalena Baerbock gut gelaunt und leidenschaftlich – und auch mit großem medialem Rückhalt – für ihre Ziele kämpfen, lud Nahles mit einem peinlichen Karnevalsauftritt und oft schnippischen Antworten zum Fremdschämen ein. Und wer sich um die Sicherheit sorgt, wählt ohnehin Union oder gleich AfD.

Unvorstellbar geordnet

Nicht unerwähnt soll die Rolle einiger roter Männer bleiben. Die Ex-Vorsitzenden Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel stänkerten vom bequemen Platz an der Seitenlinie, und dass Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sich für den besseren Vorsitzenden hält, ist auch kein Geheimnis. Jetzt allerdings stehen alle vor einem Scherbenhaufen. Seit 2004 hatte die SPD neun Vorsitzende, keiner hat den Niedergang stoppen können. Andrea Nahles wünscht sich nun, dass die Nachfolge in "geordneter Weise" geregelt wird. Man kann sich nicht vorstellen, wie das gelingen soll ohne dass die Gretchenfrage geklärt wird.

Diese lautet: in der großen Koalition bleiben – ja oder nein. Seit der Bundestagswahl im Herbst 2017 quält sich die SPD in dem ungeliebten Bündnis herum, immer wieder gibt es Ausbruchsphantasien. Auch das macht eine Partei nicht unbedingt attraktiv.

Wer immer sich nun opfert und die Nachfolge von Nahles antritt, muss entweder an GroKo-Bord bleiben und sich parallel zur Regierungsarbeit dem vernachlässigten Klimathema widmen oder das Schiff gleich verlassen. Die SPD ist in einer so desolaten Lage, dass sie sich eines sicher nicht mehr erlauben kann: einen schwankenden Kurs, der die Partei endgültig in die totale Bedeutungslosigkeit führt. (Birgit Baumann, 2.6.2019)