Hat die Theorie zum Gegenstand seiner Dramen unter anderem an der Volksbühne Berlin und im Akademietheater gemacht: René Pollesch, in Berlin stationierter Veteran der Postdramatik.

Foto: Robert Lyons

Als Arthur Schnitzlers (1862–1931) erste moderne Schmerzensfigur wollen wir einen Artisten das Augenblicks ansprechen: Anatol, den Haupthelden eines ganzen Zyklus von Szenen, entstanden zwischen 1888 und 1892. Auf Anatol, die Figur, trifft vielleicht zu, dass sie ihr eigener bester Kurgast sei: insofern sie alle Stimmungsbäder genießt, wenn sie nur ahnt, dass niemand ihr das Wasser reichen kann. Anatol ist als Erotiker ein unverbesserlicher Egoist. Um als solcher jedoch über die Grenzen des Wiener Wirkungskreises hinaus Karriere machen zu können, gebricht es diesem charmanten Filou an einer elementaren Grundvoraussetzung: an der Identität mit sich selbst.

Anatol kann binnen einer Minute seine Ansicht über einen so heiklen Gegenstand wie die erotische Treue komplett ändern. Kunststück: Treue zu sich selbst würde ja voraussetzen, dass die äußernde Person zu dem, was sie ausmacht, in einem Verhältnis der Kontinuität steht. Doch für Anatol unterliegt alles Seiende einem Bann. Indem dieses sich für ihn zur bloßen Empfindung relativiert, gehört es dem Augenblick an. Auf die überzeitliche Wahrheit seiner Einsichten darf das Ich nicht mehr hoffen. Es wird als oberster Bezugspunkt aller neuzeitlichen Philosophie hinfällig.

Von ihm gilt, was der Fin-de-siècle-Denker Ernst Mach mit Blick auf die Vorgänge in der Psyche festhielt: Das Ich ist nichts als die Summe der Wahrnehmungen, die sich für die Dauer eines Augenblicks in einem Menschen zufällig kreuzen.

Machs und Schnitzlers Erkenntnisse

Gut hundert Jahre später macht der Gießener Institutszögling René Pollesch von Machs und Schnitzlers Erkenntnissen den denkbar zügellosesten Gebrauch. Er stellt in seinen Stücken – sind es mittlerweile 36? 68? Oder nicht doch eher 121? – nicht etwa die Partikel von Figuren sicher. Das hieße ja bloß, etwas verloren zu Gebendes – das abendländische Subjekt, den heteronormativen Kerl, den kraftstrotzenden Helden – zu rekonstruieren.

Bei Pollesch aber spricht die Illusion durch die Menschen hindurch. Nicht die Figuren auf der Bühne setzen Sprechmasken auf, sondern es sind die ideologischen Verlautbarungen, die sich ihrerseits die Figuren überstülpen. Es sind die Einsichten der Theorie, die sich reale Menschen wie Flüstertüten vorhalten; und zwar Personen aus Fleisch und Blut. Schauspieler wie Sophie Rois oder Martin Wuttke, die diese wunderbar abstraktionsgesättigten Pollesch-Sätze aus sich herausschütteln, wie andere Menschen ihre zu Einsichten geläuterten Verdauungsprodukte.

Die Theaterstücke René Polleschs sind immer auch Stoffwechselprodukte. Als solche enthalten sie einen mehr als nur zarten Hinweis auf die Verwertungsgesetze des Marktes. Bühnen wie der Prater der Berliner Volksbühne, aber auch sonst alle relevanten Staatstheater von Stuttgart bis Wien, fungieren als Umschlagplätze für wahre Brocken von Theorie.

Für jedes der mit Populärkultur förmlich aufgeladenen Pollesch-Stücke gilt der Slogan der Hamburger Indie-Rockband Kolossale Jugend: "Der Text ist meine Party". Der Wechsel der Partygäste aber hat ungemein viel zu tun mit der Schnitzler‘schen Preisgabe der Vorstellung, das Subjekt sei der unversehrte Souverän seiner selbst.

In dem Pollesch-Stück "Schmeiß dein Ego weg!", uraufgeführt an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2011, gelangen drei SchauspielerInnen und ein Chor gemeinsam zu der Auffassung, dass alle Vorstellungen vom Vorhandensein einer menschlichen Seele doch als sehr irrig anzusehen seien. Die Seele, sagt "M" (Martin Wuttke), ist nichts anderes als die "Außenbeziehung des Körpers zu sich selbst". Sie ähnle dadurch einem Geldschein. Dieser werde schließlich auch nicht um seines Materialwertes willen angesehen, sondern wegen seines ihm beigelegten, gleichsam verinnerlichten Wertes.

Trennung von Sein und Schein

Gedanken wie diese entnimmt René Pollesch den Büchern und Schriften von Denkern wie Jean-Luc Nancy, Donna Haraway, Michel Foucault oder Dietmar Dath. Sie helfen nachträglich zu verstehen, warum es ein praktizierender Arzt wie Arthur Schnitzler, rund 130 Jahre vor Pollesch, in Ansehung der Seele(n) bereits mit falschen Fuffzigern zu tun bekommen hatte.

Vor allem aber eint Pollesch mit Schnitzler die Intuition, dass dem Kapitalismus in jedem seiner Entwicklungsstadien das nämliche Kennzeichen eignet: das Auseinandertreten von Sein und Schein, das im Fin de siècle noch den Zerfall des sittlich verantwortlichen Individuums meinte. Im neoliberalen Kapitalismus wäre es freilich ein Humbug, mit dem bürgerlichen Subjekt viel Federlesens zu machen. Pollesch stellt den Zwang zur Innovation, dem sich die Vertreter der postmodernen Wirtschaft unterwerfen, gleich selbst in den Schatten. Er bringt die Theorie zum Klingen, indem er sie Stück für Stück der Aneignung durch die Schauspieler aussetzt. Hurra: Der ganze Überbau wird Basis. Aus der Kontingenz solcher Moden und Manien entsteht ein neuer Kosmos – ein tönendes All, in dem die Begriffe nach alter Sphären Weise singen! Der Markt muss sich schämen, weil ein Theatererfinder ihn in Sachen Produktivität noch locker in den Sack steckt.

Besuchen Sie daher dieser Tage noch die Deponie Highfield im Akademietheater, ehe es zu spät ist. Ich gratuliere René Pollesch sehr herzlich zur Zuerkennung des Arthur-Schnitzler-Dramatikerpreises 2019. (Ronald Pohl, 7.6.2019)