Jürgen Habermas, Autor von rund 40 philosophischen Buchtiteln, hat die "dunklen" Ahnungen des deutschen Denkens durch eine Lehre der Kooperation ersetzt: eine Großtat.

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Für einen Philosophen, dessen Werk ganz und gar dem Ideal der Verständigung gewidmet ist, befleißigt sich Jürgen Habermas einer aufsehenerregend trockenen Diktion. Die Sprache hat Habermas zum alleinigen Medium der Welterschließung erklärt. Seinem Denken liegt die Zuversicht zugrunde, dass es wohl niemanden gibt, der sich dem "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" nicht gerne, aus freien Stücken, beugt.

Die Unterstellung guter Absicht, die aus jedem beliebigen Gegenüber einen hochwillkommenen Gesprächspartner macht, beruht bei Habermas auf der Annahme wechselseitigen Vernunftgebrauchs. Nur wer sich sprachlich verständigt, kann für sein Handeln Gründe geltend machen. Wer argumentiert, tut dies, um seine Mitmenschen von der Triftigkeit seiner Behauptungen zu überzeugen.

Brücken aus Gusseisen

Es liegt am anderen, die Angemessenheit der Aussagen zu prüfen, die man selbst getroffen hat. In Habermas’ Hauptwerk, der "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981), wird die Absicht, Übereinstimmung zu erzielen, folgendermaßen ausgedrückt: "Die der kommunikativen Alltagspraxis innewohnende Rationalität verweist auf eine Argumentationspraxis als Berufungsinstanz." Hinein in das von Habermas proklamierte Reich der Freiheit führen keine vergoldeten Brücken. Eher schon gleichen solche Sätze Gebilden aus Gusseisen. Ihre Nützlichkeit liegt im Umstand, dass sie zutreffend sind.

Man hat viel gerätselt über die Privilegierung der Verständigung in Habermas’ Werk. Als Bub musste er eine Reihe von Gaumenoperationen über sich ergehen lassen. Man darf getrost davon ausgehen, dass er deshalb im rheinländischen Milieu seiner Kindheit Kränkungen und Zurücksetzungen erfuhr.

Seine nasale Aussprache hat Habermas nicht daran gehindert, blutjung und mit bestürzend scharfer Intelligenz die saftigsten Früchte vom Baume der Erkenntnis zu pflücken. Bald schon schlug das Bäumchen sozialwissenschaftlich aus. Der Jüngling begehrte spektakulär auf.

Rettung der "Kritischen Theorie"

Er verbat sich Anfang der 1950er-Jahre die bruchlose Übernahme von Martin-Heidegger-Texten, in denen dieser sich ungehindert über "die innere Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus" aussprechen durfte. Und er trat früh in Gegensatz zu Altvorderen der "Kritischen Theorie" wie Max Horkheimer. Den Gehalt ihrer Kritik versuchte er zu retten: darum bemüht, die finsteren Stellen ihrer Vernunftkritik aufzuhellen. Habermas begann, die Voraussetzungen des eigenen Vernunftgebrauchs mit in den Blick zu nehmen.

Sprache ist das Lock- und Schmiermittel, das auch den Verstockten, den Mut- und Unwilligen zur Einsicht in die Notwendigkeit verhilft. Wir alle, Staatsbürger rechtlich verfasster Demokratien, sind Teil der Aufklärung. Deren kostbarstes Ideal besteht in der Idee der Herrschaftsfreiheit. Doch nur wenn die Menschen sich über das Ausmaß ihres staatsbürgerlichen Engagements auch wirklich untereinander verständigen, verwirklichen sie ihre Freiheit.

Was jemand sagt, besitzt gute Aussichten, akzeptiert zu werden. Von dieser Prämisse zehren alle Abhandlungen des Weisen, der heute hochbetagt am Starnberger See in Bayern lebt. Der Flow von Habermas’ Schriften erinnert manchmal an die Hervorbringungen anderer "absoluter" Begriffsmusiker. Man denke an Kant, an Hegels Phänomenologie des Geistes, an Max Webers soziologische Schriften. Habermas’ großer ideengeschichtlicher Widersacher, Niklas Luhmann, schrieb kaum farbiger über die Bildung sozialer Systeme.

Der Austausch von Gründen

Und doch lässt sich ab 1945 keine Theorie sozialen Handelns finden, die derart optimistisch die Möglichkeiten des Menschen ins Kalkül zieht, sein Los zu verbessern: indem er sich dem Austausch von Gründen und Gegengründen mit überschäumender Freude unterwirft. Die Aufklärung hat Ideale wie die Gerechtigkeit geschaffen. Diese bestimmen das Zusammenleben "regulativ", das heißt: Sie wirken handlungsanleitend.

Dass jemand "gut" sein soll, ist nicht länger Gegenstand eines stillschweigend vorausgesetzten Befehls. Eher schon sollten die Beteiligten nach einer einvernehmlichen Ausgestaltung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten (Staat, Recht, Grundfreiheiten) streben. Der Grad der Beteiligung an den demokratischen Prozeduren wird zum Prüfstein, ob moderne Demokratien über Legitimität verfügen.

Demokratien sind Diskursgemeinschaften: Nur aus einer solchen Perspektive lässt sich die Heftigkeit ermessen, mit der Habermas bereits 2011 (in seinem Essay "Zur Verfassung Europas") das undurchsichtige Treiben selbstgefälliger EU-Herrschaftseliten anprangerte. "Macht" bildet ebenso wie "Geld" ein System, das dazu prädestiniert erscheint, die menschliche Lebenswelt zu unterwerfen.

Kein Sinn für ästhetische Fragen

Nur ein permanenter Prozess der Verrechtlichung schützt die demokratischen Errungenschaften vor Aushöhlung. Ein Gedanke voller Ambivalenz: Schließlich wird auch der Ausbau des Rechtsschutzes mit einem Anwachsen von Bürokratie erkauft.

Man wird Habermas nicht vorwerfen wollen, dass er Schlüsselreizen der Moderne vorsätzlich verständnislos begegnet. Für die Feinheiten des ästhetischen Diskurses besitzt er kein Organ. Kollegen wie Michel Foucault verdächtigte er zu Unrecht des Dunkelmännertums. Schwerer wiegt, dass er Karl Marx vorwarf, dieser betrachte nur das menschliche Produktionshandeln – und vergesse darüber auf die Möglichkeiten des "sprechenden und handelnden Subjekts".Überall dort, wo man semantische Überschüsse findet, Jux, Kunst und Tollerei, wird man Habermas kaum begegnen. Überall sonst wäre die Welt gut beraten, sich annähernd so zu verhalten, wie Jürgen Habermas es ihr empfiehlt. (Ronald Pohl, 16.6.2019)